Chronologie
der
Scheidinger Schulgeschichte
1658 – 1968
Teil 5:
1946 – 1968
Die Nachkriegsjahre sind wenig dokumentiert, da die Menschen – und es soll nicht abwertend klingen – mit dem täglichen (Über-)Leben beschäftigt waren für die familiäre und berufliche Neuordnung. Lehrer Esser überstand relativ unbeschadet die Entnazifizierung, da er einhellig als unbedeutender Mitläufer charakterisiert wurde. Er war eine unproblematische Personalie für den Neuanfang, obwohl Esser schon im Nationalsozialismus als Hauptlehrer an der Scheidinger Schule tätig war.
Er und seine Schützlinge – wie hier 1948 mit einer Mädchenklasse – hatten bis zu Beginn der fünfziger Jahre mehr oder weniger den Unterrichtsalltag zu meistern gewusst. Wie man berichtete, entstanden in diesen Jahren – bedingt durch die angespannte Lebensmittelversorgung – Brieffreundschaften und Helferaktionen im Rahmen von Hamsterfahrten an den Wochenenden. Parallel zu dieser solidarischen Aktivität brachte sich Esser ein bezüglich eines Schulneubaus. Das waren Tätigkeiten, die in die Nähe von Herkules und Sisyphus zugleich gelegt werden mussten, da die Einwohnerzahl nach dem Krieg systematisch zurückging. 1950 waren 105 Schulkinder gemeldet, davon 97 Katholiken. 3 Lehrer organisierten den Schulalltag. Die Einwohnerzahl ging verständlicherweise zurück, da die Gemeinde die dort eingewiesenen Ostvertriebenen nicht mit den notwendigen Arbeits- und Entwicklungsmöglichkeiten versorgen konnte. Als die wirtschaftlichen Verhältnisse und die Wohnraumsituation in den Ruhrgebietsstädten eine Erholung verzeichneten, kam es naturgemäß zu einer Ab- und Rückwanderung. Esser sah seine vordergründige Aufgabe auch darin, konstante Schülerzahlen zu sichern für einen Bestandsschutz der Scheidinger Schule. Am 23. April 1955 konnte der Werler Anzeiger dann auch offiziell die Planungen für den schulischen Neubau in Scheidingen herausgeben. Seit Sommer 1955 wurden konkrete Maßnahmen umgesetzt, um den Schulneubau zu realisieren, und das Vorhaben musste aus organisatorischen Gründen vor dem Wintereinbruch umgesetzt sein. Interessant war, dass an den Bauarbeiten auf dem Schulgelände auch Strafgefangene der Werler Justizvollzugsanstalt Verwendung fanden und Fahrzeuge aus dem Bestand des Bürgermeisters zum Einsatz kamen. Die Strafgefangenen mussten wenige Zentimeter an Mutterboden auf dem Schulgelände entfernen, da für die dreiklassige Schule ein Ausheben einer Baugrube nicht erforderlich war wegen der Nichtunterkellerung. Übrigens, bei der Entfernung des Mutterbodens war der eigentliche Hausbau noch gar nicht an eine Firma vergeben. Das lässt nur den Schluss zu, dass der damalige Werler Amtsdirektor Hiltenkamp die möglichen Kandidaten auch nachträglich ohne Bedenken mit dem entsprechenden Bauauftrag versehen konnte oder die Scheidinger Fraktion hatte die sprichwörtlichen Hummeln im Gesäß und startete in Eigeninitiative und vorauseilend die Bautätigkeiten, was dann aber auf eine Gefahr im Verzug vermuten ließ. Der nachfolgende Zeitungsartikel informiert über den Beginn der Baumaßnahmen aus jener Zeit.
Noch während der Bauarbeiten ging eine Ordnungs- und Reinlichkeitsinstanz in den Ruhestand. Alfred Hansel, der über dreißig Jahre den Hausmeister der Schule abgab, im Winter für die korrekte Funktion der Öfen Verantwortung trug und den Schulhof sauber hielt, verabschiedete sich aus familiären Gründen aus dem Schuldienst. Wie schon erwähnt, die Bauarbeiten mussten zügig vollzogen werden, denn der Winter 1955/56 nahte. Im Werler Anzeiger vom 16. November 1955 berichtete man dann nicht ohne Stolz von mammutösen Arbeitsaktionen wie Dachkonstruktion in einem Tag oder Es wird so lange wie möglich gearbeitet. 1956 war es dann endlich gerichtet. Die nachfolgenden Zeitungsartikel geben einen Eindruck wieder, nach dem offenbar die neue Schule wie ein besonderes Ereignis in Entstehung und Aura zelebriert worden war.
Was Wortelkamp dazu meint, lässt den aufmerksamen Leser dazu verleiten, dass offenbar nicht nur in diesem gereimten Festbericht zur Einweihung der Scheidinger Schule platt geschrieben, sondern tatsächlich im schulischen Umfeld auch so kommuniziert wurde. Die Vermutung ist nicht nur richtig, sondern es gab auch tatsächlich einen bildungspolitischen Erlass für nordrhein-westfälische Volksschulen aus jener Zeit, wie aus nachfolgendem Zeitungsbericht zu entnehmen:
Am 1. April 1957 wurde passend zur neuen Schule ein Jubiläum einer pädagogischen Institution gefeiert. 25 Jahre fungierte Lehrer Esser als Schulleiter der Scheidinger Schule. Der allseits beliebte Lehrer hatte bereits den Sechzigsten überschritten und war seit dem 19. Februar 1914 im Schuldienst tätig. 1951 erfolgte dann im Rahmen der Einführung der Dreiklassigkeit in Scheidingen die Berufung zum Hauptlehrer. In der öffentlichen Danksagung honorierten und hofierten die Dorfältesten dann auch die Leistungen des Dienstjubilars. Zwei Jahre streifte Esser noch durch das neue Gebäude, dann senkte sich am 31. März 1959 sein Kopf bei der nach Zeugenaussagen emotional ergreifenden Abschiedsvorstellung und Lehrer Esser ging in den Ruhestand. Monsieur Esser, merci pour votre soutien. Am 20. August 1959 übernahm Lehrer Hötte das le sceptre éducatife.
Darüber hinaus muss eine Lehrerpersonalie zwingend Erwähnung finden, da seit den fünfziger Jahren die Scheidinger Schule in Fräulein Cäcilie Scholz eine Pädagogin das Regiment führte, bei der Außenstehende mindestens eine Besinnungspause nach der persönlichen Bekanntschaft mit dieser pädagogischen femme fatale einlegen mussten. Unter Umständen war auch nach der zweiten Besinnungspause noch ein unklares Fragezeichen in den Gesichtern der Zurückgebliebenen, weil diese schwierige Person ein konkurrenzloses Selbstbewusstsein an den Tag legte und mit dem pädagogischen Zeigefinger gerne die Richtung anzeigte. Möglicherweise gab es nur bösen Zungen, die die liebe Cäcilie Scholz als verbitterte Frau charakterisierten und ihre Sympathiewerte in den Nanobereich einlagerten. Und der pädagogische Züchtigungsstab hatte nicht nur eine grammatikalische Bedeutung für diese Vollblutfrau. Ob es an der Ausbildung bei den Nationalsozialisten lag oder sie von Natur aus den herrischen Sergeant mimte, blieb ihr bis zum Schluss vorbehalten. Aber sie blieb auch eine prägende Institution.
Diese Personalie soll aber nichts Unnötiges dramatisieren und den negativen Teil demonstrieren. Auch eine Frau Scholz brachte sich mit Leib und Seele in den Unterrichtsalltag ein. Jeder sitzt im Glashaus und braucht daher nicht mit (unnötigen) Steinen zu werfen. Und die letzten Jahre fungierte die nette Cäcilie mit Anstand und Würde als Schulleiterin bei der Abwicklung der Dorfschule.
Die sechziger Jahre läuteten dann die Endphase der Dorfschule ein. Der Hintergrund war die abnehmende Schülerzahl. Es gab natürlich Diskussionen, besonders mit Blick auf die mammutösen und von der Gemeinschaft getragenen Baumaßnahmen zur Realisierung der neuen Schule, deren Grundsteinlegung noch nicht einmal 10 Jahre alt war. Es half aber nichts. Und die Hoffnung auf unverhältnismäßigen Schülerzuwachs konnte nur in Verbindung mit der Mär von den Störchen einhergehen. Nur noch gelegentlich gab es Berichte, die sich mit der Ausstattung der Schule beschäftigten, so wie 1962 die Lieferung von neuen Kachelöfen oder eine neue Dachwetterfahne, die vom Goldschmiedemeister Lahme aus Geseke angefertigt werden sollte. Das Ende der Schule wurde für den Abschluss des Schuljahres 1967/68 beschlossen. Naturgemäß ging es nicht ohne hitzige Debatten vor Ort, wie der nachfolgende Zeitungsartikel vom März 1968 zu berichten wusste. Seit Sommer 1966 hatten ohnehin schon die oberen Jahrgänge die Volksschule in Welver besucht. Es ging nur noch um das ebenfalls emotional belastete schwierige Thema der Schulzuweisung der Scheidinger Schüler. Welver war durch den Ortsverband Welver-Scheidingen verwaltungsschlussfolgern die Hauptanlaufstelle, aber Werl vereinnahmte die historisch gewachsene Verbindung mit Scheidingen, da Scheidingen stets im „Norden von Werl“ angesiedelt war seit dem Mittelalter.
Mit Wehmut ist das letzte Klassenbild einer Scheidinger Klasse zu betrachten aus dem Jahr 1968. Auch Fräulein Scholz war mit auf dem Bild. Die Entscheidung war jedoch gefallen. Und ungenutzt blieb die Schule nicht, denn hier wurde dann der katholische Kindergarten einquartiert. Es war eine vernünftige Ressourcenbindung –weiternutzung. Viel blieb aber auch von der Schulgeschichte nicht mehr übrig. Hors de vue, hors d´esprit, sagen die Franzosen. Und mit dem verwaltungstechnischen Abschluss ist oft – und auch – irgendwann ein gedanklicher Abschluss vollzogen. Heute existiert noch der Kindergarten, und das alte Schulgebäude war noch einmal ein Thema Ende der achtziger Jahre wegen Renovierungsarbeiten und deren anhängenden Kosten. Heute dient das Gebäude als Mietshaus.
Resümee
Die Chronologie einer Dorfschule ist als enzyklopädische Darstellung nicht möglich. Das ist kein Eingeständnis eines gescheiterten Versuches, sondern liegt in der Natur einer schulischen Institution, die erst mit der Frühen Neuzeit über ein ausreichendes Niveau an schriftlichen Quellen verfügte über sich etablierende Dokumentationen und trotzdem größere Lücken auf der Zeitleiste aufweisen kann. Neben diesen technischen Problemen und der oft vergeblichen Suche nach altem Bild- und Kartenmaterial für eine Dorfschule zeigt sich noch problematischer die Wertigkeit der Auswahl von Alltäglichem für eine Darstellung. Das ohnehin rare Quellenmaterial – und je weiter man auf der Zeitleiste zurückgeht, desto rarer wird der Status quo der Dokumentation – erhält durch die Notwendigkeit einer Auswahl weiterhin eine Verringerung der Basis am Darzustellenden. Das Banale, das Redundante, die verstärkte Gefahr einer einseitigen Bewertung von Lehrkörpern oder auch die Vernachlässigung der Würdigung – bis hin zur unberechtigten Nichtbeachtung der Zeitzeugen – von Außenstehenden bei der Darstellung von schulischen Aktivitäten erschwert eine populärwissenschaftliche Darstellung für den direkten und breiten Zugang zu der Materie. Ich will es an zwei Beispielen aus der punktuellen Schulchronologie hervorheben:
- Die nachträgliche Bewertung von Lehrkräften aus der Scheidinger Schulgeschichte, sofern keine offiziellen Bewertungsbögen auf amtlicher Seite existieren, ist eine Gratwanderung. Ein einseitiger Tenor ist darzustellen bei Vorliegen von einseitigen Zeitzeugenaussagen. Diese Einstufung muss aber nur ein Teil des Ganzen widerspiegeln und ist es auch in der Regel. Der Historiker ist zur Multiperspektivität verpflichtet. Aber wie ist es um den Historiker geschehen bei lückenhafter Darstellung von Psychogrammen? Es ist eine unmögliche Mission, die im realen Versuch nur eine auf Sand gebaute These hervorbringen kann. Das ist der Preis dieser Darstellungen. Lehrer Esser war unwiderruflich beliebt bei den Scheidingern. Und seine Tätigkeit als Lehrer im Nationalsozialismus? Die Nationalsozialisten hatten zumindest ein Grundvertrauen in der Umsetzung seines Sozialisationsauftrages in der Schule, und viele Lehrplanthemen waren von undemokratischem und rassischem Gedankengut. Und die armen Fräuleins Beine und Scholz werden mit leichtem oder auch direktem Unterton in dieser Darstellung in die negative Aura katapultiert. Zumindest bei Fräulein Scholz gehört nachträglich eine positive Ergänzung postuliert, da sie in den letzten Jahren der Existenz der Scheidinger Volksschule mit Fach- und Verwaltungskompetenz die Schule führte.
- Die Gemeindemitglieder, der Gemeinderat, die Stadtoberen aus Werl und die Vertreter der Schulbehörden hatten das notwendige Engagement gezeigt bei der Planung und Durchführung des Schulneubaus in Scheidingen. Die detaillierte Schilderung der Handlungsabläufe und –personen würde den Rahmen sprengen oder das Desinteresse beim Leser forcieren. Dieses unbeachtete Wissen – unabhängig vom realen Vorliegen dieser Wissenselemente – nähert sich ungewollt dem vergessenen Wissen. Und das ist verlorenes Wissen, zumal mit dieser Alltagsgeschichte oft im Nachhinein die Funktionsweise und das soziale Klima in (Dorf-)Gemeinschaften erschlossen werden können. Ein unentbehrlicher Fundus geht für Wirtschafts- und Sozialhistoriker sehenden Auges in die Verbannung. Unabhängig davon, das soziale Engagement Einzelner kann so nicht voll in der Würdigung ausgeschöpft werden.
Die Chronologie trägt einen ambivalenten Charakter in sich. Der Historiker kann seinen methodischen Werkzeugkasten weder voll ausschöpfen noch darf er es. Un dilemme technique! Vielmehr gehört eine Chronologie stets auf den Prüfstand, denn stets zeigen sich neue Überreste, die Aufklärendes, Erhellendes oder Ergänzendes beitragen können. Die Scheidinger Schulgeschichte ist nicht komplett, das Komplette wurde auch nicht eingebaut und die Sammlung von neuen Überresten ist ein fortlaufender Prozess. Die vorliegende Chronologie will und kann nur eine Momentaufnahme in Aufarbeitung und Dokumentation sein.
Abbildungsnachweis:
- Abbildung 1:
Bild der alten Schule
- Abbildung 2:
Schulklasse mit Lehrer Esser. Das Foto befindet sich im Privatbesitz von Samantha Seithe.
- Abbildung 3:
Zeitungsartikel. Werler Anzeiger, 23. April 1955. Der Zeitungsartikel befindet sich im Privatbesitz von Samantha Seithe.
- Abbildung 4:
Zeitungsartikel. Werler Anzeiger, 14. November 1955. Der Zeitungsartikel befindet sich im Privatbesitz von Samantha Seithe.
- Abbildung 5:
Zeitungsartikel. Werler Anzeiger, 16. November 1955. Der Zeitungsartikel befindet sich im Privatbesitz von Samantha Seithe.
- Abbildung 6:
Zeitungsartikel. Werler Anzeiger, 05.Oktober 1956. Der Zeitungsartikel befindet sich im Privatbesitz von Samantha Seithe.
- Abbildung 7:
Zeitungsartikel. Werler Anzeiger, 01. Oktober 1955. Der Zeitungsartikel befindet sich im Privatbesitz von Samantha Seithe.
- Abbildung 8:
Zeitungsartikel. Werler Anzeiger, 31. März 1959. Der Zeitungsartikel befindet sich im Privatbesitz von Samantha Seithe.
- Abbildung 9:
Frl. Cäcilia Scholz. Das Foto befindet sich im Privatbesitz von Samantha Seithe.
- Abbildung 10:
Personalkarte Cäcilia Scholz
http://archivdatenbank.bbf.dipf.de/actaproweb/archive.xhtml?id=Vz++++++7dcefeec-4209-4a56-8261-282f4cd44479&parent_id=#Vz______7dcefeec-4209-4a56-8261-282f4cd44479, abgerufen am 17. 04.2016.
- Abbildung 11:
Schulklasse mit Fr. Scholz. Das Foto befindet sich im Privatbesitz von Samantha Seithe.
- Abbildung 12:
Zeitungsartikel. Werler Anzeiger, 03. März 1962. Der Zeitungsartikel befindet sich im Privatbesitz von Samantha Seithe.
- Abbildung 13:
Zeitungsartikel. Werler Anzeiger, 13. März 1968. Der Zeitungsartikel befindet sich im Privatbesitz von Samantha Seithe.
- Abbildung 14:
Zeitungsartikel, Werler Anzeiger. Der Zeitungsartikel befindet sich im Privatbesitz von Samantha Seithe.
- Abbildung 15:
Letzte Schulklasse.
https://scheidingen.de/letzte-scheidinger-schule-1968/, abgerufen am 17.08.2016
- Abbildung 16:
Zeitungsartikel. Werler Anzeiger. Der Zeitungsartikel befindet sich im Privatbesitz von Samantha Seithe.
- Abbildung 81:
Umbau der alten Schule. Das Foto befindet sich im Privatbesitz von Samantha Seithe.
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