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Die Anfänge der deutschen Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg – Von Ambitionen und ungenutzten Potenzialen in der psychologischen Kriegsführung

Die Anfänge der deutschen Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg –

Von Ambitionen und ungenutzten Potenzialen in der psychologischen Kriegsführung

 

Der Prolog

Lord Northcliff hatte nicht unrecht, wenn er behauptete, die Rede eines englischen Staatsmannes sei für England 20000 Pfund wert, 50000 Pfund, wenn die Deutschen sie nachdruckten und 100000 Pfund, wenn sie nicht darauf antworteten“, hieß es in den Memoiren des deutschen Generals Erich Ludendorff 1919.[1] Der Mitinitiator der Dolchstoßlegende zweifelte in der Rückschau nicht an der Wirkung einer psychologischen Kriegsführung, als er zustimmend die Ansichten des britischen Verlegers Alfred Charles William Harmsworth, 1. Viscount Northcliffe wiedergab. War es die Beantwortung der Einstiegsfrage? Oder kaschierte der Protagonist der Obersten Heeresleitung das Versagen an der deutschen Propagandafront? Oder konnten etwa die Deutschen wenig Plakatives generieren, verursacht durch ihre aktive Kriegsführung in den ersten Kriegswochen unter Nichtbeachtung der belgischen Souveränität? Zunächst will die Ausarbeitung Stellung nehmen zur Propaganda in den Ludendorffschen Memoiren, indem die Vorlaufzeitaktivitäten der Deutschen in Bezug gesetzt werden zu dem larmoyanten Resümee des einstigen Generalquartiermeisters. Und warum zeichneten sich die Engländer anfangs durch eine gewisse Passivität aus? In der Rückschau muss konstatiert werden, dass die Horrormärchen auf den antideutschen Foren im Ausland bezüglich der deutschen Besatzung in Belgien Mirabilien auslösten wie offizielle Berichte, Untersuchungen oder Kommissionen für das „„poor little Belgium“. Und wo steckte bei den Deutschen eigentlich die Krux für eine tragfähige Propaganda? Diese Fragen werden einer Antwort zugeführt. Oder zumindest werden handelnde Personen aufgelistet in ihrem Meinungsbild, um Rückschlüsse ziehen zu können.

Ein Veto gegen Ludendorff!

Die Anfänge der deutschen Propaganda liegen weder in den Schützengräben an der Westfront noch entsprangen sie als Menetekel aus den Kraterlandschaften um Verdun, an der Somme oder in Flandern. Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts betrieb das Nachrichtenbureau der Reichsmarine unter Heinrich Löhlein eine charmante Offensive hinsichtlich der aggressiven kaiserlichen Flottenpolitik. Nur in der Rückschau wurde die propagandistische Kompetenz dieser wilhelminischen Marineoktroyierung deutlich, da die offensichtlichen Torpedierungen des Two-Power-Standard und die nachweisliche strategische Unterlegenheit auf hoher See bei Kriegsszenarien über die teutonischen Bürgerschichten hinweg wenig Widerhall fanden. Die Löhlein-Truppe war so auch zu Beginn des Ersten Weltkrieges – und hier gibt es ein Veto an das larmoyante Resümee des Erich Ludendorff – selbstverständlich vereinnahmt worden für transnationale Werbeflakfeuereinheiten.[2] Die Deutschen hatten allerdings wesentlich mehr zu bieten als die Löhleinsche Propagandatrommel aus dem Reichsmarineamt. Schon 1912 forderte der bekannte Autor Paul Rohrbach in seiner Teutonenfibel „Der deutsche Gedanke in der Welt“ eine Kulturpropaganda, sozusagen eine Sättigung mit deutschem Gedankengut in den zu der Zeit noch existierenden unerforschten Landstrichen.[3] Zudem existierte seit 1911 auf Betreiben des späteren Mitgliedes der Waffenstillstandskommission Matthias Erzberger ein Fonds zur Verbreitung deutscher Nachrichten im Ausland, aus dessen Finanzierung heraus umtriebige Aktivitäten realisiert werden konnten, seinerzeit nicht ohne Vermerkwürdigkeit bei diplomatischen Vertretern der Entente. Im Sommer 1914 gab der britische Botschafter in Rom, Sir James Rennell Rodd, in einer Mischung aus Konsternation und Huldigung der Zentrale in London zu Protokoll, dass das mit den zahlreichen Flugblättern und Broschüren im neutralen Italien auf eine gute Vorbereitung des Gegners hindeute.[4]  Nur allzu gerne versorgten die Deutschen das neutrale Ausland mit Frontberichten und inszenierten Interviews von der Front. Ob dem neutralen Beobachter dabei die mit Argusaugen umgesetzten Zensurbestimmungen vom 31. Juli 1914 bewusst waren, mit denen die Reichsregierung den möglichen Kriegskorrespondenten ein propagandistisches Lagebild zuwerfen wollte, blieb dabei der Einzelfallprüfung verpflichtet. Die Propaganda erhielt die priesterliche Weihe bereits am 2. August 1914, als der ranghöchste kaiserliche Soldat, Helmuth von Moltke der Jüngere, in der Presse ein obligates Mittel der Kriegsführung zu erkennen glaubte.[5] Die frühzeitige Einrichtung  von Kriegsberichterstatterquartieren im Sommer 1914 auf deutscher Seite und die Akkreditierung patriotisch gesinnter Kriegskorrespondenten, von denen die ersten Lageberichter Ende August 1914 an die Front abkommandiert wurden, zeigen deutlich das frühzeige Bewusstsein der Deutschen für die plakative und cineastische Wirkung an der Heimatfront. Ergänzt man nun noch diese rührige Propaganda auf der deutschen Seite um den Tatbestand, dass das britische Kriegsministerium erst im Sommer 1915 auf Intervention der Vereinigten Staaten die Frontberichterstattung genehmigte, so können die Aussagen des Herrn Ludendorff hinsichtlich des stiefmütterlich behandelten Propagandasektors zurückgewiesen werden.[6] Auch die im Oktober 1914 initiierte Einrichtung einer Auslandsdienstzentrale im Berliner Außenministerium, deren Führung Matthias Erzberger übernahm, und die die im Ausland tätigen Agenturen in deren Informationsdarstellung bezüglich des Deutschlandbildes bündelte, widersprach der Geschichtsklitterung durch Protagonisten der Ludendorffschen Argumentationsfront. Dieses propagandistische Propädeutikum mit internationaler Ausrichtung war den Engländern durchaus bewusst, da bereits in den ersten Kriegstagen 1914 das Atlantikkabel durch die Briten gekappt wurde. Der Kabelleger Telconia hatte diesfällig nur wenige Stunden nach Ablauf des britischen Ultimatums im August 1914 den Auftrag zur Durchtrennung erhalten.[7] Der den Mittelmächten zur Verfügung stehende Sender Nauen war jedoch kein Äquivalent, obwohl es die bis dato leistungsstärkste Funkstation der Welt war mit Reichweiten nach Persien und Lateinamerika und täglich die neuesten Meldungen vom Kriegsgeschehen brachte. Und verlagstechnisch wurde gleich zu Beginn des Krieges auf deutscher Seite aus allen Druckerpressen geschossen. Es wurden neue Publikationen in Amerika und in China gegründet, das „Hamburger Fremdenblatt“ erschien in mehreren Sprachen und die Gräuelpropaganda nahm sofort Fahrt auf. Da schrieb man, dass Nürnberg von französischen Flugzeugen bombardiert worden wäre[8], oder die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ meldete am 1. Dezember 1914, dass die indischen Sikhs doch gewöhnlich bei Nacht die deutschen Stellungen aufsuchten mit dem erklärten Ziel, den Soldaten die Kehle durchzuschneiden und ihr Blut zu trinken. Den Legendenstatus unter den gräulichen Spukgeschichten nahm dabei die Geschichte vom französischen Priester in Beschlag, der genüsslich eine Kette aus abgetrennten Fingern um den Hals trug. Nicht viel weniger sinister schien das Märchen über die Belgier, die teutonischen Landser in Lazaretten die Augen ausstechen würden.[9]

Der perfide Albion kommt peu à peu

Die Propaganda war ein altes und gewaltiges Kampfmittel Englands. (…) Dieses war der einzige Staat, der seit langem in klarer Absicht dieses Hilfsmittel der Politik und Kriegführung in wirklich großzügiger Weise in den Dienst seiner nationalen weltumspannenden Politik gestellt hatte“, gab fast apodiktisch Ernst Ludendorff in seinen Kriegserinnerungen wieder.[10] In toto kann dem aber nicht Zustimmung entgegengebracht werden, denn die deutschen Politiker um Matthias Erzberger waren am Vorabend des Ersten Weltkrieges ambitiös(er) auf dem Gebiet der Propaganda. Und hier lag als Motivation nicht mehr nur die kommerzielle Werbemaßnahme als ursprüngliches Reservoir für die Propaganda vor, sondern es formten sich Reaktive auf wie auch immer geartete Staatsfeinde. Britische Politiker häsitierten anfangs ob der propagandistischen Kriegsmaschinerie. Und diese Reserviertheit hatte pragmatische Gründe. Der Burenkrieg (1899-1902) in Afrika war den Kriegsstrategen in London eine Lehre wert gewesen hinsichtlich einer autonom agierenden Presse. Nicht vergessen waren die Falschmeldungen und die Verdächtigungen, die über die britischen Soldaten verbreitet worden waren mit dergestaltigen Ressentiments, dass britische Diplomaten an den führenden Höfen Europas zu Beginn des 20. Jahrhunderts Jeremiaden an die Zentrale in London verschickten und der ausländischen Presse Hetzkampagnen unterstellten. Diese durch die Gazetten grassierenden Improperien waren den soldatischen Eudoxien nicht dienlich gewesen.[11] Zudem trugen die Bediensteten im britischen Kriegsministerium Sorge, dass durch eine Berichterstattung laizzes faire kriegswichtige Informationen dem Feind ohne Spionageaufwand hätten als fixe Quelle zugeführt werden können. Kriegsminister Lord Herbert Kitchener gab sogar Order, dass jeder im Kriegsgebiet tätige Korrespondent unter Konfiszierung des Passes unverzüglich festgesetzt und zurückgeschickt werden sollte. Oder gar der damalige Erste Lord der Admiralität, der spätere Premierminister Winston Churchill, sah schlichtweg keinen Platz für Korrespondenten auf Kriegsschiffen.[12] Diese doktrinäre Zurückhaltung wäre aber auf  Dauer ein Verzicht auf die Auslastung der Ressourcen zur Festigung einer antideutschen Stimmung in der Öffentlichkeit gewesen. Ohnehin mussten die Briten Paroli bieten, da die deutsche Propagandaflut gerade auf dem Hoheitsgebiet der Vereinigten Staaten inkonvenient öffentlichkeitswirksam war. Wohlwissend von der Kraft dieser Propagandapamphlete forderte der damalige Finanzminister David Lloyd George bereits im Sommer 1914 Gegenmaßnahmen, um sich der deutschen Falschmeldungsfront zu stellen.[13] Im Spätsommer 1914 erfolgte dann auf Anweisung des englischen Premierministers Herbert Asquith die Grundsteinlegung einer Auslandspropagandaorganisation im Außenministerium. Es war die Geburtsstunde des War Propaganda Bureau mit Sitz nahe dem Buckingham Gate in London unter Leitung von Charles Mastermann. Mastermann, politischer Weggefährte des Premierministers, lehnte jedoch jegliche Attitüde ab, die im Einklang mit der deutschen Propagandakultur stand. Hier zeigte sich bereits zu Beginn der administrativen Bemühungen um eine nachhaltige Propaganda die feingeistige, subtile Art der Briten in der psychologischen Kriegsführung. Mastermann sah in der deutschen Propagandakultur eine plumpe, mit Broschüren überladene Meinungsoktroyierung mit wenig Charmepotenzial. Und in der Tat, die durchaus den Deutschen freundlich gesinnten Norweger interpretierten deren Druckerzeugnisse als Dauerbombardement. Und nicht viel weniger ungeschickt gaben sich die Teutonen in der Meinungsbekehrung bei Uncle Sam. Mit Nachdruck appellierte der damalige deutsche Botschafter in Washington, Johann Heinrich von Bernstorff, in den Äther nach Berlin, dass die Amerikaner kein Anreiz für die fremdbestimmte Übernahme von Meinungsbildern hätten, vielmehr forderten sie Tatsachen zur eigenen Meinungsbildung. Mastermann hatte richtig erkannt, dass die wirkungsvollste Propaganda darin lag, die Meinungsbildner in den neutralen Ländern für sich zu gewinnen.[14]

Das Malheur der deutschen Propaganda

Das Wilhelminische Kaiserreich zeichnete sich nicht durch Inaktivität aus oder gar durch limitierte Kompetenzträger im Auslandsdienst. Ab ovo usque ad mala darbte die deutsche Propaganda am Ruf des Angreifers, des Souveränitätsverletzers und Besatzers. Hinzu kamen die völkerrechtswidrigen Vorfälle in Belgien, als bereits in den ersten Kriegstagen tausende belgische Zivilisten auf Veranlassung der zuständigen deutschen Militäradministration erschossen wurden. Die berüchtigte Hunnenrede Wilhelms II. im Vorfeld des Boxeraufstandes hatte offenbar in Kontinentaleuropa einen nachträglichen Spielplatz erhalten. Anlass für die Stigmatisierung, den deutschen Soldaten auf die Ebene des abendländischen Hunnenablegers zu hieven, war die unverhältnismäßige Zerstörung der belgischen Stadt Löwen Ende August 1914. Dieses Fanal sollte langfristig das Bild der Deutschen im Ausland prägen, und die antideutsche Gräuelpropaganda – ob berechtigt oder mit polemischer Übertreibung – konnte nicht mehr adäquat neutralisiert werden von den teutonischen Kriegerpsychologen. Alleine der Bryce-Bericht, der (vermeintliche) Gräueltaten der Deutschen im besetzten Belgien auflistete, hatte im Ausland einen intensivierenden Habitus hinsichtlich des negierenden Deutschlandbildes. Wenn nun noch zusätzlich der mit hoher Reputation ausgestattete ehemalige britische Botschafter Lord James Bryce, Namensgeber des im Frühjahr 1915 veröffentlichten Berichtes, die propagandistische Werbetrommel rührte, war er als Transduktor der barbarischen preußischen Militärkanaille dem psychologischen Zugriff der Deutschen vollends entronnen. Selbst Mastermann, reserviert im Umgang mit dem Bryce-Bericht und offensichtlich in Kenntnis gesetzt zu punktuellen Übertreibungen im Bryce-Bericht[15], konnte sich der britischen Verlegerpresse nicht entziehen, die – namentlich in Northcliffe als Gallionsfigur – das Faible für Sensation oder für das antideutsche Ressentiment schürten. Ein weiterer archimedischer Punkt in der gegnerischen Presse für die Komposition eines negierenden Deutschlandbildes stellte der Fall der Krankenschwester Edith Cavell dar. Die britische Staatsbürgerin wurde im Oktober 1915 erschossen wegen Spionage. Was kam da der britischen Presse besser gelegen als eine aufopferungsvolle Krankenschwester, die verletzten Soldaten Zuflucht gewährte im Hospital? Gazettenkanonaden wie „brutaler Justizmord“ oder „infamste Verbrechen der Geschichte“ erhielt der preußische Militarist eine neuerliche Deklassierung auf der Empathiestufe. Dass das Menetekel des grauröckigen Besatzers eine prinzipielle Wirkungslosigkeit in der nachhaltigen Propaganda generierte, zeigte sich im Spionagefall der Mata Hari, der als juristisches Äquivalent zu Cavell nicht von den Deutschen instrumentalisiert werden konnte. Nicht von minderer Außenwirkung, und nun auch amerikanische Staatsbürger direkt involviert, war der Fall des Charles Fryatt, der im März 1915 ein deutsches U-Boot rammte und wegen dieses Vergehens zum Tode verurteilt wurde. Dieser Fall war in der Außenwirkung so gesetzt, dass britische Artilleristen später ihre Granaten mit „To Capt. Fryatt´s Murderers“ versahen. Der uneingeschränkte U-Bootkrieg führte – auch mit Blick auf Charles Fryatt – zu der wenig possierlichen Titulierung „reißende Wölfe“ in den britischen Gazetten und zum leidlichen Nachklang mit den US-Amerikanern.[16] Ob dem Ausland die bedrückende Fernblockade in ihrer Ausprägung hinsichtlich der Versorgung der Zivilbevölkerung bewusst war, bleibt nur zu vermuten, lag aber in deren fehlender Berücksichtigung zur Akzeptanz des U-Bootkrieges vordergründig beim deutschen Auslandsdienst. Hier war ein militärtaktisches Dilemma zum Vorschein gebracht, da das Eingeständnis der prekären Versorgungslage im Kaiserreich bereits zu Beginn der kriegerischen Auseinandersetzungen nicht offenbart werden konnte. Und somit blieb den Deutschen in der propagandistischen Auslastung nur die Diskretion, um das Wagnis der unnötigen Gegenpropaganda zu neutralisieren. Erst durch den fehlenden Gegenpol konnte sich die antideutsche Propaganda wie ein grassierendes Lauffeuer durch die ausländischen Gazetten wildern nach Sympathisanten und Förderer. Und von denen gab es reichlich genug.

Belgien war die Krux!

In der Nachbetrachtung war gerade das „innocent Belgium“ für die Deutschen die Krux. Der Schlieffen-Plan erhielt politische Brisanz – neben den militärtaktischen Unwegbarkeiten – gerade in der Souveränitätsverletzung des kleinen Landes.  Der englische Historiker Reginald Brett, 2. Viscount Esher formulierte es für die Deutschen nachteilig so:

Die belgische Episode war ein Glücksfall, der sich genau zum richtigen Zeitpunkt ereignete, um unseren Kriegsbeitritt den moralischen Vorwand zu liefern, den es braucht, um die Einheit der Nation sowie die der Regierung sicherzustellen.[17]

Gerade auf dem nordamerikanischen Kontinent sollte die Werbetrommel für das „poor little Belgium“ genau die materielle Sogwirkung erreichen, die das Deutsche Kaiserreich nicht mehr kompensieren konnte. Bereits ab 1915 gab es in den Vereinigten Staaten von Amerika die „Commission for relief in Belgium“, die werbewirksam für Spenden an die von den maledeiten Teutonen so arg in Bedrängnis gebrachten Belgier eintrat. Die Halbwahrheiten der belgischen Flüchtlinge, die erfundenen Geschichten von Kindern mit abgehackten Händen, deutsche Leichenfabriken zur Produktion von Glycerin oder die Herausgabe eines „Deutschen Verbrecherkalenders“ durch das National War Aim Committee zeigten alleine durch die permanente mediale Präsenz eine unbewusste Übernahme im Denken der Menschen.[18] Diese Berichte wurden auf Vortragsreisen schauspielerisch überzeugend der Zuhörerschaft dargeboten in einer Form, dass selbst besonnene Regierungsmitglieder wie Lloyd Georg aus England oder Francesco Saverio Nitti aus Italien Nachforschungen zur Verifizierung organisierten. Nitti erinnerte sich in seinen Memoiren an die Durchschlagskraft dieser Gräuelberichte:

Man hat uns von armen belgischen Kindern erzählt, denen die Hunnen die Hände abgehackt hatten. Nach dem Krieg schickte ein reicher Amerikaner, tief unter dem Eindruck der französischen Propaganda, einen Geheimboten nach Belgien mit dem Auftrag, sich um diese Kinder zu kümmern. …] Der Bote konnte jedoch kein einziges dieser Kinder finden. Mr Lloyd George und ich selbst in meiner Eigenschaft als italienischer Regierungschef stellten daraufhin genaue Nachforschungen an, um die Wahrhaftigkeit dieser Berichte zu überprüfen, von denen manche sogar Namen und Orte nannten. Es stellte sich heraus, daß alle von uns untersuchten Fälle erfunden worden waren.[19]

Obwohl im vorgenannten Zitat die französische Presse genannt wird, ist doch Lloyd George ein Protagonist der Wahrheitsfindung. In der englischen Presse zeigte sich für die Deutschen das Potenzial einer nicht staatlich reglementierten Korrespondenz. Sie war nicht die „Magd der amtlichen Propaganda“[20], und realiter wurden die angeblichen deutschen Gräueltaten mit einer beachtlichen Portion Eigendynamik versehen unter Ausnutzung kriegstaktischer Dilemmata. Amtliche Stellen waren reserviert ob der Wahrheitsfindung oder Richtigstellung, so dass das Bild der Deutschen peu à peu an der Tragweite der freien britischen Presse demon

[1] Vgl. hierzu Ludendorff, Erich, Meine Kriegserinnerungen 1914-1918, Berlin 1919, S. 303. Das wortwörtlich Zitierte wurde am 17. April 2018 unter dem Hyperlink https://archive.org/details/Ludendorff-Erich-Meine-Kriegserinnerungen aus der digitalen Version der Kriegserinnerungen entnommen.

[2] Vgl. hierzu Deist, Wilhelm, Flottenpolitik und Propaganda, Das Nachrichtenbureau des Reichsmarineamtes 1897-1914, Stuttgart 1976, S. 321ff.

[3] Vgl. hierzu Rohrbach, Paul, Der deutsche Gedanke in der Welt, Düsseldorf und Leipzig 1912, S. 206.

[4] Vgl. hierzu Sir James Rennell Rodd, Social and Diplomatic Memories, in: Sanders, Michael & Philipp M. Taylor, Britische Propaganda im Ersten Weltkrieg 1914-1918, Berlin 1990, S. 40.

[5] Vgl. hierzu Koszyk, Kurt, Deutsche Pressepolitik im Ersten Weltkrieg, Düsseldorf 1968, S. 23ff.

[6] Vgl. hierzu Lindner-Wirsching, Almut, Deutsche und französische Kriegsberichterstatter, in Daniel, Ute (Hrsg.): Augenzeugen. Kriegsberichterstatter vom 18. zum 21. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 118.

[7] Vgl. hierzu Sanders & Taylor, Britische Propaganda, a. a. O., S. 25.

[8] Vgl. hierzu Koszyk, Kurt, Entwicklung der Kommunikationskontrolle zwischen 1914-1918, in: v. Fischer, Heinz Dietrich, Pressekonzentration und Zensurpraxis im Ersten Weltkrieg, Berlin 1973, S. 174.

[9] Vgl. hierzu Knightley, Philipp, The First Casualty. The War Correspondent as Hero, Protagonist and Myth-Maker from the Crimea to Iraq, London 2003, S. 87 und S. 113.

[10] Vgl. hierzu Ludendorff, Kriegserinnerungen, a. a. O., S. 289.

[11] Vgl. hierzu Sanders & Taylor, Britische Propaganda, a. a. O., S. 17.

[12] Vgl. hierzu Knightley, First Casualty, a. a. O., S. 91.

[13] Vgl. hierzu Sanders & Taylor, Britische Propaganda, a. a. O., S. 40.

[14] Vgl. hierzu Sanders & Taylor, Britische Propaganda, a. a. O., S. 88f und Wilke, Jürgen, Deutsche Auslandspropaganda im Ersten Weltkrieg: Die Zentralstelle für Auslandsdienst, in: Ders. (Hrsg.), Pressepolitik und Propaganda. Historische Studien vom Vormärz bis zum Kalten Krieg, Köln/Weimar/Wien 1997, S. 125.

[15] Vgl. hierzu Sanders & Taylor, Britische Propaganda, a. a. O., S. 120.

[16] Vgl. hierzu Schramm, Martin, Das Deutschlandbild in der britischen Presse 1912-1919, Berlin 2007, S. 391ff.

[17] Zitiert nach Morelli, Anne, Die Prinzipien der Kriegspropaganda, Springe 2014, S. 30.

[18] Vgl. hierzu Bremm, Klaus-Jürgen, „Staatszeitung“ und „Leichenfabrik“, in: Österreichische Militärische Zeitschrift XLVI. Jahrgang, Heft 1 2008, S. 14f. und Morelli, Die Prinzipien der Kriegspropaganda, a. a. O., S. 30.

[19] Zitiert nach Morelli, Die Prinzipien der Kriegspropaganda, a. a. O., S. 30.

[20] Vgl. hierzu Sanders & Taylor, Britische Propaganda, a. a. O., S. 35.