Als das Personalkarussell in der politischen Chefetage der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) zu Beginn der siebziger Jahre rotierte, und Walter Ulbricht als Erster Sekretär offenbar altershalber den Marschallstab 1971 an Erich Honecker weiterdelegieren musste, gab es eine Zäsur in der ideologischen Ausrichtung des Ost-Westkonfliktes. Das sozialistische Modell in der DDR unter der Regie Walter Ulbrichts wurde dem Schafott übergeben. Politisch der Entspannungspolitik nicht zugeneigt, betrieb Ulbricht stets einen emanzipatorischen Sozialismus, allerdings nur dem Laissez-faire aus Moskau geschuldet. Die Personalerneuerung im Zentralkomitee (ZK) war mit der Hoffnung auf mehr Pragmatismus verbunden, auch jenseits des antifaschistischen Schutzwalls. Und die Bausteine, die realiter der Entspannung zugeführt werden können in den siebziger Jahren wie der Grundlagenvertrag 1972, die Aufnahme der beiden deutschen Staaten in die UNO 1973 oder die Schlussakte von Helsinki 1975, stehen apodiktisch für eine Abkehr von dogmatischem Idealismus.
Aber war der Wunsch nach mehr Entspannung und Pragmatismus auch originär für den vollzogenen Personalwechsel? Diese Fragestellung und die Wirkungsweise der Resultanten stehen in der Ausarbeitung im Fokus der Betrachtungen. Um der quantitativen Restriktion der Hausarbeit Rechnung tragen zu können, werden hier nicht in corpere das Bedingungskonglomerat und die Grundzüge der Ost-West-Entspannung in den Diskurs gesetzt, sondern die Motivwahl einzelner Politbüromitglieder zur politischen Dekomposition Ulbrichts aufgeführt, und die ökonomische Neuaurichtung, die der VIII. Parteitag im Juni 1971 propagierte, in ihren widersprüchlichen Charakteristika skizziert. Ob sich diese neue konzeptionelle Wirtschaftspolitik als Enfant terribel für die Longävität eines staatlichen Hoheitsgebietes erwiesen hat, bleibt im fragmentarischen Konstatieren eine Aufgabe der vorliegenden Ausführungen.
Mit dem Machtwechsel kommt der Kurswechsel
Ob es sich um einen honorigen Abgang oder um eine aufoktroyierte Wachablösung handelte im Frühjahr 1971, als Walter Ulbricht auf der 16. Tagung des Zentralkomitees (ZK) der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) in Ost-Berlin um seine Entbindung gebeten hatte von dem Pflichtenkatalog des Ersten Sekretärs, bedarf in der Abwägung einer kurzen Analyse, um die gesellschaftspolitische Neuausrichtung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) in den siebziger Jahren nicht dem Phoenix aus der Asche zuschreiben zu müssen. Lesen wir zunächst die Stellungnahmen der daran Beteiligten:
„Nach reiflicher Überlegung habe ich mich dazu entschlossen, das Zentralkomitee auf seiner heutigen Tagung zu bitten, mich von der Funktion des Ersten Sekretärs des Zentralkomitees der SED zu entbinden. […] Ich erachte daher die Zeit für gekommen, diese Funktion in jüngere Hände zu geben, und schlage vor, Genossen Erich Honecker zum Ersten Sekretär des Zentralkomitees zu wählen.“[1]
Diese Geschichtsklitterung erhielt durch den Zeitzeugen und das Politbüromitglied Hermann Axen nachträglich eine besondere Form der Wahrhaftigkeit, als der ehemalige Protagonist für die internationalen Beziehungen im ZK in den neunziger Jahren zu Protokoll gab, dass die Ablösung kein Coup gewesen wäre, kein Komplott zur Beseitigung der Personalie Ulbricht, um Schaden zu nehmen diesseits des antifaschistischen Walls. Und das die personale Erneuerung auf dem VIII. Parteitag 1971 mit der Ausrufung eines programmatischen Neuanfangs nicht die Ulbrichtsche Affinität besaß, lag in der Natur der Dinge.[2] Diese typische Argumentation für eine verharmlosende, verwässernde Sicht auf eine persona non grata entsprach – ganz linientreu – den Erinnerungen Erich Honeckers nach dem Mauerfall, als dieser seine Sicht der Dinge zur Übergabeprozedur 1971 wiedergab und den damaligen Machtwechsel mit seiner persönlichen Situation zur Wendezeit verglich und die Ablösung Ulbrichts als „kulturvollen Übergang“ interpretierte.[3]
Ob Honecker diesen epochenübergreifenden Vergleich ad hoc moralisierend in Szenerie setzen darf, bleibt nicht zu konstatieren in dieser Ausarbeitung, aber der Umgang mit Walter Ulbricht nach seiner Demission auf der 16. ZK-tagung im Mai 1971 ist unwiderruflich in der Konklusion. Ulbricht blieb zwar der Staatsratsvorsitzende, aber diese protokollarische und repräsentative Funktion war nicht mehr gekoppelt realiter an eine legislative oder exekutive Weisungshoheit. Der Historiker Dietrich Staritz formulierte es 1996 treffend in seinem Werk zur Geschichte der DDR, als die Wachablösung von Ulbricht zu Honecker „die Periode der großen Einzelpersönlichkeiten in der SED-Führung“[4] beendete. Die Indikatoren für das systematische Vergessen waren die typischen Charakteristika an einer Person, die in den gesellschaftspolitischen Abort verfrachtet wurde. Das war die Umbenennung der „Deutschen Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften ´Walter Ulbricht´“, einst Kaderschmiede für die DDR-Administration. Sie verlor ihren Namensgründer in der Titulierung. Auch die ikonische Vernichtung von Briefmarkenportraits oder die Umbenennung des Ost-Berliner „Walter Ulbricht-Stadions“ in „Stadion der Weltjugend“ 1973 verdeutlichen die Deformation zur Unperson.[5] Letztlich spiegeln die Erinnerungen des Spionagechefs Markus Wolf die Situation adäquat wider, als er in seinen Memoiren von Geschehnissen im Vorfeld der 16. ZK-Tagung im Mai 1971 zu berichten wusste, wonach Erich Honecker in seiner Funktion als ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen Ulbrichs Sommersitz in Dölln von bewaffneten Personenschützern umstellen ließ und Ulbricht nötigte wegen fragilen Gesundheitszustandes, die Funktion des Ersten Sekretärs zur Verfügung zu stellen.[6]
Der Kommunist Walter Ulbricht, der noch Wladimir Iljitsch Lenin persönlich kannte, stand zur Disposition. Warum? Offensichtlich gab es seit 1970 parteiinterne Kassandrarufe, die an der personifizierten SED-Figur Ulbricht abprallten. Während der 14. ZK-Tagung im Dezember 1970 gab es bereits Diskurse zur angespannten Versorgungslage und den damit einhergehenden Misstönen in der DDR-Bevölkerung. Hanna Wolf, Direktorin der Parteihochschule Karl Marx sprach auf dieser Tagung die merklichen Versorgungslücken an, wobei sie den medizinischen Sektor heraushob. In dieser Hinsicht war sie mit Paul Verner d´accord, einem Veteranen der „Gruppe Ulbricht“, der zumindest in der moderateren Wortwahl von „instabiler Versorgung“ sprach. Hier lag in der Argumentation auf der Tagung der neuralgische Punkt gegen Ulbricht. Sie kritisierte die Vernachlässigung der pharmazeutischen Industrie zugunsten der Computerproduktion und bemerkte süffisant an, dass so in den Apotheken manchmal kein Hustensaft zu bekommen sei.[7] Ulbricht nahm sich dieser Kritik an und wollte diese Äußerungen durchaus veröffentlicht wissen im Neuen Deutschland, dem Zentralorgan der SED. Aber nun regte sich das Politbüro und stellte den Widerstandsmodus ein, da die parteiinternen Kalamitäten nicht hätten verborgen bleiben können. Der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Halle, Horst Sindermann, formulierte es in jenen Tagen noch drastischer in einer Petition an Walter Ulbricht, als er selbstkritisch die Vernachlässigung der Zulieferindustrie anprangerte.[8]
Walter Ulbricht lenkte zwar ein, aber dabei blieb es nicht. Die ökonomischen Würfel waren bereits auf einer Politbürotagung vom 8. September 1970, als in Abwesenheit von Walter Ulbricht unter der Federführung Erich Honeckers die Grundzüge der neuen Wirtschaftspolitik beschlossen und als deren Eckpfeiler die Lossagung von Automatisierungsmaßnahmen zugunsten der Konsumwirtschaft deklariert worden waren. Mit einem Brandbrief vom 21. Januar 1971 an das Politbüro der KPdSU wurde Walter Ulbricht endgültig geschasst, da 13 Funktionäre aus dem SED-Politbüro gegen Ulbricht wetterten ob des Realitätsverlustes ihres Ersten Sekretärs und der daraus resultierenden geringen Affinität zur gemeinsamen Linie.[9] Wie hilflos oder eben auch planlos der Initiator der Neuausrichtung, also Erich Honecker, am Personalkarussell hantierte, zeigte sich nach dem Tod Ulbrichts 1973. Ursprünglich als Symbolpolitik angepriesen, die Kernmannschaft der Wirtschaftspolitik aus den sechziger Jahren unter Ulbricht politisch zu isolieren, musste bereits im Oktober 1976 Willi Stoph als Vorsitzender des Ministerrates reaktiviert werden. Und Günter Mittag, Installateur des Neuen Ökonomischen Systems (NÖS), durfte sich wieder das Etikett des Verantwortlichen für die Wirtschaftspolitik im ZK auf die sozialistische Brust meißeln.
Die Zahlen sprechen für sich … erst einmal!
Nicht nur die Abgrenzung zur Ulbrichtschen Deutschlandpolitik war im Grundsatzreferat Honeckers auf dem VIII. Parteitag thematisiert, dahingehend, dass das weltanschauliche Lagerdenken mit Betonung eine Fortsetzung erhielt mit den dafür typischen Attitüden wie „sozialistische DDR“ oder imperialistische BRD“, sondern auch die Wirtschaftspolitik unter dem Planmantel des NÖS stand zur Disposition. Immerhin konnte der Außenstehende Honeckers Realitätssinn nicht verwerfen, als dieser unmissverständlich auf dem VIII. Parteitag als vordergründige Aufgabe die Saturierung der Alltagsbedürfnisse der Menschen ausrief. Zu diesem Zweck wurde der Fünfjahresplan 1971 installiert auf Grundlage der realiter ökonomischen Spielräume. Die Phrase vom „real existierenden Sozialismus“ war geboren, auch wenn diese erst eine offizielle Einweihung auf der 9. ZK-Tagung 1973 erhielt.[10]„Wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben“[11], so hieß die Ulbrichtsche Maxime, und hinsichtlich der Alltagsversorgung war der Persiflage damit freien Lauf gewährt, so ja bereits an entsprechender Stelle der vorangestellten Ausführungen bei Hanna Wolf oder dem NÖS-Protagonisten Horst Sindermann nachzulesen. Nun ging es um die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik, also um das Tandem aus Arbeitsproduktivitätssteigerungen und daran gekoppelten Lebensstandards. Ganz sich von der Ulbrichtschen Wirtschaftspolitik zu emanzipieren, ging schon wegen der Qualität und Quantität zur Produktivitätssteigerung nicht. Die Neuererbewegung von 1971 setzte daher nur punktuell neue Akzente. Die Verordnung über die die Förderung und Tätigkeit der Neuerer und Rationalisatoren in der Neuererbewegung (NVO 1971) war zumindest – auf Basis der Datensätze der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik der DDR – seinen Vorgängerversionen quantitativ überlegen. Konnten 1970 noch knapp 16% der Arbeitskräfte sich mit der Attitüde des Neuerers schmücken kurz vor der Ablösung Ulbrichts, lagen am Ende der Ära Honecker 34% der Werktätigen im Dunstkreis der Neuererbewegung.[12]
Und die Zahlen versprachen zunächst einen Aufwärtstrend bei den ökonomisch relevanten Daten. Das Nationaleinkommen wuchs stetig bis 1950, die Erhöhung des Lebensstandards war signifikant und der Wohnungsbau war dabei das Steckenpferd des Fünfjahresplans bis 1975, denn das für 1975 auf 125 Prozent gegenüber dem Baujahr 1970 festgelegte Bauplanziel wurde deutlich überschritten, wobei dem Wohnungsbau (Neubauten, Modernisierungen) eine tragende Rolle zukam. Als Ausgleich für den tendenziell maroden Zustand der Wohnungen gab es die Subvention auf die Miete. Durchschnittlich mussten hier vom Mieter um eine Ost-Mark pro Quadratmeter aufgebracht werden. Lagen die direkten und indirekten Mietkosten in der BRD 1975 bei ungefähr 21 Prozent des Nettoeinkommens, bezogen auf einen Vier-Personen-Haushalt, konnte durch die Inanspruchnahme der staatlichen Subvention in der DDR ein entsprechender Haushalt unter 5 Prozent bleiben. Die Schattenseite dieser Mietvergünstigungen lag in der Verödung der Innenstädte oder dem stiefmütterlichen Klima bei Altbausanierungen. Marode, vom bröckelnden Putz befallende Altbauten, rußgeschwärzte Dächer und graue Häuserfassaden waren als Resultierende in den späten siebziger Jahren keine Seltenheit mehr im Erscheinungsbild der DDR-Städte. Obwohl dahingehend Mietstaffelungen und Zuteilungskriterien bei bezugsfertigen Wohnungen den turning point initiieren sollten, blieb das graue Ambiente bis zum Ende der DDR ein Charakteristikum im Stadtbild und visualisierte die Mangelbauwirtschaft oder setzte die Vernachlässigungssektoren unfreiwillig in Szenerie.
Nehmen wir weitere Kenngrößen in die Bewertung einer sich entwickelnden Volkswirtschaft, so war der Anstieg des Durchschnittseinkommens in der DDR von 755 Ost-Mark auf 1021 Ost-Mark innerhalb eines Jahrzehnts ein klares Signal für die ökonomische Kurskorrektur 1971. Auch die Versorgung mit Personenkraftwagen, Kühlschränken, Fernsehgeräten oder Waschmaschinen verdeutlichte die Erhöhung des Lebensstandards. Kamen erst 16 von 100 Haushalten 1970 in den Genuss eines motorisierten Vehikels auf vier Rädern, waren es 1975 schon 26 Haushalte und 1980 sogar 37 Haushalte.[13] Qualitativ konnten die Pkw-Baureihen wie der Trabant nicht die Normen westdeutscher Pkw-Baureihen erfüllen, und die Wartezeit von mehreren Jahren trug ihren Anteil an der merklichen Trübsal ob dieses augenscheinlich hochwertigen Konsumgutes. Zudem zeigte sich gerade in den ursprünglich über das Neuererprogramm initiierten Produktionsmodus, mittels Kunstoffhülle Korrosionsfreiheiten und Reparaturfreundlichkeiten zu maximieren („Pappe“), der neuralgische Punkt in der Produktivitätssteigerung. Die langandauernden Aushärtezeiten der Kunststoffe in den Pressen machten eine Produktivitätssteigerung nicht möglich und konnten nicht dem Vergleich mit den Stückzahlen in westdeutschen Metallpressen standhalten.[14]
Analog zur Sozialpolitik der Kanzler Brandt und Schmidt in den siebziger Jahren in der BRD, blieb auch der DDR-Führung nicht verborgen, die reibungsintensive und spannungsentladene Wirtschaftspolitik zu harmonisieren durch eine Sozialpolitik zwecks Befriedung und einer Motivation. Unter anderem der Bevölkerungsschlüssel für die Arbeitswelt stand im Fokus des sozialpolitischen Experimentierkastens. Und die DDR-Wirtschaft stand vor einem Dilemma. Einerseits war die Zahl der erwerbsfähigen Personen auf knapp unter 60 Prozent gesunken zu Beginn der siebziger Jahre. Das Reservoir an möglichen Neuerern war damit überproportional gesunken, da mit der statistischen Abnahme einer Bezugsgröße die NVO 1971 langfristig Schaden nehmen musste durch verkettete Restriktionen. Die Rolle der Frau in der Berufswelt war fortschrittlich, denn über 80 Prozent der erwerbsfähigen Frauen standen in Lohn und Brot bei den volkseigenen Betrieben oder den Handelsorganisationen, aber die Fruchtbarkeitsziffer von lediglich nur etwa 84 Geburten auf 1000 Frauen im gebärfähigen und –vorstellbaren Alter standen als Malus im Schatten der emanzipierten Rollenverteilung. Der spannungsreiche Spagat zwischen beruflichem und privatem Umfeld und die ausbaufähige Versorgungssituation füllten in negativer Konnotation ihr Dasein prächtig aus. Nur zu einem einzigen Sachverhalt hatte die DDR-Legislative in ihrer Geschichte, die Volkskammer, keinen einheitlichen Beschluss fassen können, und das war der Beschluss von 1972, die Fristenregelung bei Schwangerschaftsabbrüchen einzuführen mit der kostenlosen Ausgabe von Verhütungsmitteln. Konstant sah man sich denn auch einer Verringerung der Geburtenrate ausgesetzt und konsterniert stellt man 1975 den Wert von etwas mehr als 52 Geburten auf 1000 Frauen fest. Die Überlastung der weiblichen Gebärkandidaten musste mit sozialistischem Nachdruck beseitigt werden. Und aus dieser Not heraus wurde für Mehrschichtarbeiterinnen mit mehreren Kindern die 40-Stunden-Woche eingeführt. Auch Schwangerschafts- und Wöchnerinnenauszeiten wurden verlängert oder die Finanzierung für eine Auszeit nach dem zweiten Kind mit Rückkehrgarantie verabschiedet. Zudem gewährte man jungen Ehepaaren zinslose Kredite oder subventionierte den Vorschulbereich. Immerhin konnten die Bevölkerungsstatistiker am Ende der siebziger Jahre einen merklichen Anstieg bei der Fruchtbarkeitsziffer auf über 67 Geburten bei 1000 gebärfähigen Frauen. Ohnehin schien die DDR-Wirtschaft von diabolischer Natur gewesen zu sein, denn die Nettogeldeinnahmen der Bevölkerung konnten unter Erich Honecker um fast 100 Prozent und die Konsumtion am Nationaleinkommen steigerte sich um mehr als 7 Prozentpunkte.[15] Diese Indizien für den kaufstarken Geldbeutel gingen aber einher mit der Abnahme der Nettoinvestitionen am inländisch genutzten Nationaleinkommen, dokumentiert über eine Verschlechterung der Infrastruktur und die verhärmten Stadtbilder.
Soziale Errungenschaften verdecken die Grundprobleme
Natürlich konnten durch Frauenförderpläne, gleichberechtigte Bezahlungen und Weiterbildungsangebote der weibliche Bevölkerungsanteil zur produktiven Einbindung in die Arbeitswelt animiert werden, oder das Neuererkonvolut NVO 1971 führte zu effektiveren Synergien, aber das als Dogma postulierte zentralistische Planungs- und Leitungssystem machte die Innovationen langsam, verzögerte deren Umsetzung selbst bei notwendiger Produktivitätsumstrukturierung enorm. Auch die Ungleichverteilung der Innovationen in den Industriezweigen führte dazu, dass der Investitionsstau unnötigen Verschleiß und die damit einhergehende Minderproduktivität fabrizierte. Die Arbeitsproduktivität lag daher 1974 im westdeutschen Vergleich bei lediglich 64 Prozent. Auch die Ölkrise von 1973 machte natürlich keinen Bogen um die ohnehin nicht autarke DDR-Wirtschaft. Zu sehr hatten sich die DDR-Ökonomen auf die sowjetischen Erdöllieferungen verlassen mit den in den Fünfjahresplänen taxierten Fixpreisen. Diese brüderliche Zuversicht wurde durchaus anfänglich so wahrgenommen. Die UdSSR musste jedoch, um die Devisenzufuhr nicht unverhältnismäßig zu verringern, die Preise dem Weltmarktniveau anpassen. Am Ende der Verteuerungsphase sah sich Willi Stoph, Vorsitzender des Ministerrates, realiter einer Zahlungsverpflichtung von annähernd 80 Prozent des Weltmarktniveaus. Dabei bleib es aber nicht, denn die DDR musste für eine tragbare Außenhandelsbilanz das Geschäft mit den Handelsgütern forcieren, was bei gleichzeitiger Reduzierung der westlichen Absatzmärkte fatale Auswirkungen hatte. Einerseits hing man am Erdöltropf der UdSSR, andererseits ermöglichte die daraus resultierende Globalisierung die Energiebedarfsdeckung auch in westlichen Zulieferermärkten, da die UdSSR die Erdöllieferungen nach Kontinentaleuropa forcierte zwecks Maximierung der Erdölverkäufe während der Erdölkrisen in den siebziger Jahren. Dieser Teufelskreislauf führte zur Kreditaufnahme im Westen, was Verschuldung und Abhängigkeit förderten. Lieferengpässe durch die Erdölkontingentreduzierung verursachten eine zunehmende Fokussierung auf den Braunkohletagebau in der DDR. Die Braunkohle erlebte zwar ein Revival („Braunkohle um jeden Preis“), aber das Politbüro meißelte unbewusst durch die radikale Auslastung der Tagebaue und Kohlegruben einen Widerstand in der Bevölkerung, der latent nicht mehr kompensiert werden konnte und die Wurzeln bereitete für die Bürgerbewegungen der achtziger Jahre. Zwangsumsiedlungen in sächsischen und brandenburgischen Landstrichen oder die umweltmalträtierenden Braunkohleveredelungsbetriebe, gar die direkte Korrelation aus marginalisierendem Sorbentum und Braunkohleindustrie in der Lausitz („Schwarze Pumpe ist das Grab des Sorbentums“) förderten die Entfremdung zum politischen System in Ost-Berlin. Die Energiepolitik förderte zwar indirekt die deutsch-deutsche Bilateralität (Erdgasröhrengeschäfte, Verarbeitung von Rohstoffen, Energieversorgung West-Berlins), aber die zunehmende Verschuldung zur Finanzierung der Sozialpolitik (kostenlose medizinische Versorgung, Rentenerhöhungen, Wohnungsbau) war zumindest in großen Teilen der Bevölkerung zu Beginn der siebziger Jahre nicht bekannt. Die Verbesserung des Lebensstandards wurde finanziert auf Pump, Kredite mussten aufgenommen werden zur Zinstilgung. Waren am Ende der Ära Ulbricht die Bürger mit zwei Milliarden Valuta-Mark verschuldet beim kapitalistischen Klassenfeind, so gab es am Ende der Ära Honecker eine Verschuldung von annähernd 49 Milliarden Valuta-Mark. Dieser Schuldenkreislauf rief als Resultierende den wirtschaftlichen Zusammenbruch der DDR hervor.[16]
Die Strategie, durch soziale Wohltaten (verbesserter Konsum mit Beginn der Ära Honecker die Bevölkerung der DDR ideologisch zu binden und das akzentuierte Ulbrichtsche Neuererprogramm (NVO 1971) als Brückenkopf für eine erhöhte Arbeitsmoral zu implementieren, scheiterte an den realen Begebenheiten der DDR-Ökonomie. Die Diskrepanz zwischen der angeblichen Überlegenheit sozialistischer Errungenschaften und den tatsächlichen Verschuldungen im kapitalistischen Westen, flankiert von den realen Beobachtungen in den Betrieben, nährten den Boden für resignative und zynische Verhaltensmodi, die langfristig die Loyalität und das Arbeitsengagement torpedierten. Selbst Honecker war nach Recherchen des Politmagazins Der Spiegel bereits Ende der siebziger Jahre konsterniert während der Laufzeit des zweiten Fünfjahresplans erkannt haben musste, dass in wichtigen Produktionsbereichen wie der Pharmaindustrie, im Wohnungsbau bei den Rundfunkgeräten oder der Eisen- und Lederwarenindustrie grundsätzlich die Planziffern nicht das hergaben, was hätte aus der Planerfüllung erwachsen müssen. Durchhalteattitüde wie „Vertragstreue und Ehrlichkeit“ oder „Harter Kampf“ waren im Grundsatzreferat Honeckers während der 8. Tagung des ZK 1978 herauszulesen, aber auch „ernste Erscheinungen von Verletzungen der Partei- und Staatsdisziplin“ konnte der Erste Sekretär nicht leugnen. Schon zu dieser Zeit war die DDR-Wirklichkeit zu einem Hemmschuh derart generiert, dass selbst Hardliner im Politbüro sich der Ausweglosigkeit – wenn auch nicht in konkreter Skizzierung – bewusst waren.[17]
Schlussakkord
Werden die Statistiken zur Entwicklung der Konsumgüter herangezogen, dann waren die siebziger Jahre in der DDR-Konsumgüterindustrie tatsächlich die Goldenen Jahre. Das kulturelle und materielle Lebensniveau musste um jeden Preis erhöht werden. Und dieser Preis schlug sich in der stetigen Zunahme der Auslandsverschuldung nieder. Die diffizile Situation bestand darin, dass gerade der kapitalistische Klassenfeind auf dem nichtsozialistischen Hoheitsgebiet exponentiell in die Kreditgeberrolle hineinwuchs. Aus erster Hand formuliert, verdeutlichen die Äußerungen von Gerhard Schürer, dem Chef der zentralen Plankommission der DDR, das wirtschaftliche Manko und den Untergang auf Raten:
„Erich Honecker hatte 1971/72 mit der Formel „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ den verhängnisvollen Kurs eines erhöhten Konsums zu Lasten der Investitionen eingeschlagen – und das auf Kredit. Als ich Honecker im Politbüro vor dieser Politik warnte, wurde ich als „Saboteur“ abgebürstet. […] Unter Walter Ulbricht hatten wir zwei Milliarden Mark Schulden im Westen. Unter Honecker wuchs der Schuldenberg dann in sechs Jahren auf 20 Milliarden D-Mark an. 60 Prozent dieser Kredite flossen in den Verbrauch. Wir haben ja sogar Blumen mit 450 Millionen Mark im Jahr subventioniert, das war absoluter Wahnsinn, den ich beenden wollte. Denn damit gingen die Grundlagen für die Rückzahlungen verloren. Aber Honecker hat auf Pump gelebt.“[18]
Die Forcierung einer vergrößerten Konsumangebotspalette bedeutete für den Staatshaushalt ein Absinken der Nettoinvestitionssumme. Ursprünglich als Motivationsschub in den Alltag generiert, Produktivität, politische Bindung und die Arbeitseinstellung zu maximieren über, blieb der ökonomische Kurswechsel mit dem Machtantritt Honeckers in seinen Möglichkeiten zurück ob der Realitäten wie Kreditneuaufnahmen oder verschärfenden Belastungen wie den Ölkrisen in den siebziger Jahren.
Quellenverzeichnis:
Sindermann, Horst, Brief an Ulbricht vom 17. 12. 1970, in: Honecker, Erich. Zur Korrektur der Wirtschaftspolitik Walter Ulbrichts auf der 14. Tagung des ZK der SED 1970, Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv Berlin, DY 30, J IV A/158.
Spittmann, Ilse: 16. ZK-Tagung: Rücktritt Ulbrichts, in: Deutschland Archiv 4 (1971), S. 545-552.
Literaturverzeichnis:
Andert, Reinhold; Herzberg, Wolfgang: Der Sturz. Honecker im Kreuzverhör, Berlin 1990.
Axen, Hermann: Ich war ein Diener der Partei. Autobiographische Gespräche mit Harald Neubert, Berlin 1996.
Bierling, Stefan; Grosser, Dieter; Neuss, Beate: (Hrsg.): Bundesrepublik und DDR 1969 – 1990 (Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung 11), Stuttgart 1996.
Naumann, Gerhard; Trümpler, Eckhard: Von Ulbricht zu Honecker. 1970 – ein Krisenjahr der DDR, Berlin 1990.
Staritz, Dietrich: Geschichte der DDR, Frankfurt a. M. 1996.
Staatliche Zentralverwaltung für Statistik (Hrsg.): Das Statistisches Taschenbuch der DDR 1988, Ost-Berlin 1988.
Stelkens, Jochen: Machtwechsel in Ost-Berlin, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 45.4 (1997), S. 503 – 533.
Wolf, Markus: Spionagechef im geheimen Krieg. Erinnerungen, München 1997.
[1] Spittmann, Ilse: 16. ZK-Tagung: Rücktritt Ulbrichts, in: Deutschland Archiv 4 (1971), S. 545 – 552, S. 547.
[2] Axen, Hermann: Ich war ein Diener der Partei. Autobiographische Gespräche mit Harald Neubert, Berlin 1996, S. 315.
[3] Andert, Reinhold; Herzberg, Wolfgang: Der Sturz. Honecker im Kreuzverhör, Berlin 1990, S. 273.
[4] Staritz, Dietrich: Geschichte der DDR, Frankfurt a. M. 1996, S. 273.
[5] Fricke, Karl Wilhelm: Wird Ulbricht zur Unperson?, in: Deutschland Archiv 6 (1973), S. 233 – 235, S. 233.
[6] Wolf, Markus: Spionagechef im geheimen Krieg. Erinnerungen, München 1997, S. 256 – 257.
[7] Naumann, Gerhard; Trümpler, Eckhard: Von Ulbricht zu Honecker. 1970 – ein Krisenjahr der DDR, Berlin 1990, S. 119.
[8] Vgl. hierzu den Brief Sindermanns an Ulbricht vom 17. 12. 1970, in: Honecker, Erich: Zur Korrektur der Wirtschaftspolitik Walter Ulbrichts auf der 14. Tagung des ZK der SED 1970, Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv Berlin, DY 30, J IV A/158.
[9] Stelkens, Jochen: Machtwechsel in Ost-Berlin. Der Sturz Walter Ulbrichts 1971, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 45.4 (1997), S. 503 – 533, S. 506 – 508.
[11] Dieses Zitat wird – historisch nicht verbürgt – der deutschen Weberin Frida Hockauf zugeschrieben, die sich Anfang der fünfziger Jahre im „VEB Mechanische Weberei Zittau“ durch Planübererfüllungen einen Namen machte und so hervorragend in das System der Leistungsboni der NÖS-Propaganda passte.
[13] Bierling, Stefan; Grosser, Dieter; Neuss, Beate: (Hrsg.): Bundesrepublik und DDR 1969 – 1990 (Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung 11), Stuttgart 1996, S. 240.
Tatsächliche oder angebliche konstituierende Momente einer Rechtsschule
Inhaltsverzeichnis
Proömium
Faktoren für eine universitäre Longävität
Die Glossatoren als Urknall für die Rezeption des
Römischen Rechts
Inventio Irnerii?
Persönliche zu Unklarem
Resümee
Quellen und Literatur
Proömium
Lässt man mögliche Negativbelegungen der Kulturrevolution außen vor, dann kann im Hochmittelalter die einhundertjährige Phase ab 1050 als eine Ära der beginnenden kulturellen Revolutionen charakterisiert werden. Der einstimmige, lithurgische Gesang der römisch-katholischen Kirche in lateinischer Sprache, als gregorianischer Choral tituliert, verliert zusehends seine Hegemonialstellung an die Notre-Dame-Schule mit der Modalnotation und dem Organum als zentrale Elemente der Mehrstimmigkeit. In der Literatur werden die ersten Akzente zur Minne dargeboten. Troubadours der ersten Stunde wie Wilhelm IX. von Aquitanien werfen ihre Lyrik in die Frühphase des deutschen Minnesangs unter dem von Kürenberg. In der Philosophie wird verstärkt die scholastische Methode als Grundlage genommen für einen disziplinübergreifenden Argumentationsmodus, der auf Prämissen beruht und nach dem aristotelischen Syllogismus ausgerichtet ist.
Dieser scholastischen Methode bedienten sich die Glossatoren, die die Quellen des römischen Rechts mit Glossen versahen und in Bologna am Ende des 11. Jahrhunderts eine Rechtsschule gründeten. Diese Rechtsschule bildete den archimedischen Punkt für die spätere Universitas Bononiensis. Die Universitätsgründungen waren gewöhnlich bewusste Gründungs- und Stiftungsakte von weltlichen, geistlichen oder landesherrlichen Autoritäten.
Bologna ist jedoch wie die spätere Sorbonne in Paris aus dem quellentechnisch raren Gewohnheitsrechts entsprungen. Diese spontane Ordnungsbildung hatte bald einen exzellenten Ruf und stand dem Nimbus der einstigen Beiruter Rechtsschule nutrix legum unter den römischen Kaisern Theodosius II. und Justinian I. sehr nahe. Nach unbestätigten Quellen waren im 12. Jahrhundert mehrere tausend Rechtsstudenten in Bologna eingeschrieben. Eine Anzahl, die Bologna vor administrativen Herausforderungen stellen musste, nimmt man die Größe mittelalterliche Städte als Bezugspunkt.
Was zeichnete Bologna aus? Welche Voraussetzungen mussten erfüllt sein für eine universitäre Longävität? Und welche Personenkreise konnten in der Frühphase der Universitas Bononiensis Strukturen schaffen für die Etablierung der Rechtsschule? Eine Stringenz in der Konklusion kann dahingehend nicht erfolgen, da das Quellenmaterial aus der Frühphase der Bologneser Rechtsschule bestenfalls Theorien auf Sand baut. Dieser Vagheit muss sich jedoch ein Historiker stellen, und daher gilt dem Irnerius, dem Begründer der Glossatorenschule in Bologna, eine besondere Berücksichtigung. Inwiefern dieser mythischen Person die Existenzgrundlage entzogen werden kann, bleibt abzuwarten. Die Ausarbeitung selbst maßt sich nicht die Autorität an, gewohnheitsrechtliche Dogmen ad absurdum zu führen, will jedoch in bewertender Ausgeglichenheit sich der fragilen Thesensetzung bei rarem Quellenbestand stellen.
Faktoren für eine universitäre Longävität
Was Friedrich Karl von Savigny, deutscher Rechtsgelehrter und Begründer der Historischen Rechtsschule, in seinem Standardwerk zur Geschichte des römischen Rechts aus dem 19. Jahrhundert zur Gründungsentstehung der ältesten Rechtsschulen in Europa formulierte, war bis in das 20. Jahrhundert hinein ein rechtsgeschichtlicher Ariadnefaden, sozusagen ein Vademecum nach der Schleiermacherschen Hermeneutik, denn wie folgt wurde in diesem neuzeitlichen Euvre der Rechtsgeschichte argumentiert:
„Ein ganz vorzüglicher Unterschied aber zwischen jenen alten Universitäten und den unsrigen liegt in der Art ihrer Entstehung. Denn es würde ganz irrig seyn, wenn man die ältesten Universitäten des Mittelalters als Lehranstalten in unserm Sinn betrachten wollte, d. h. als Einrichtungen wodurch ein Fürst oder eine Stadt zunächst den Unterricht der Eingebornen hätte begründen, daneben aber auch die Theilnahme der Fremden zulassen wollen. So war es nicht, sondern wenn ein Mann, von höherem Lehrtriebe erregt, eine Anzahl lernbegieriger Schüler um sich versammelt hatte, so entstand leicht eine Reihenfolge von Lehrern, der Kreis der Zuhörer erweitere sich, und so war ganz durch inneres Bedürfnis eine bleibende Schule gegründet.“[1]
Diese Argumentationskette ist von profaner Natur, besticht durch ihre ostensive Denkweise und steht trotzdem nicht im Einklang mit den historischen Wahrheiten. Natürlich können sich bei Existenz von Fachkoryphäen an einem Ort Lehr- und Lernkollegien etablieren, deren Longävität
jedoch terminiert ist. En masse können Exempla in einem Dossier aufgeführt werden, die dem Elenchus für die Savignyschen Argumentation dienlich sind. Der Prototyp dieses Kontraposts ist das Kloster Bec im Département Eure in der Normandie, das seit der Mitte des 11. Jahrhunderts einen honorablen Ruf in der Lehre der Sieben Freien
Künste sein Eigen nennen konnte, wesentlich verursacht durch das Tätigkeitsprofil des Gelehrten Lanfranc, des späteren Erzbischofs von Canterbury. Der Scholastiker Anselm von Canterbury, der Kirchenreformer Ivo von Chartres oder der Pontifex maximus Alexander II. entstammten dieser Klosterschule, aber eine Transgredienz hinsichtlich eines Bildungshortes sollte das Kloster nicht in das 12. Jahrhundert nehmen. Ein bleibender Bestand der Klosterschule konnte nicht konstituiert werden. Lehranstalten wie Paris oder Bologna mussten sich erst eine Reputation erarbeiten und konnten doch gegenüber den Lehranstalten in Chartres, Tours, dem frühmittelalterlichen Bibliotheksfundus Fulda, Ravenna oder Lüttich seit dem frühen 12. Jahrhundert einen stetigen Aufschwung verzeichnen. Welche Faktoren protegierten nun juristische Kaderschmieden wie Bologna?
Wirtschaftliche und politische Entwicklungen als Rahmenbedingungen sind in der Nachbetrachtung stets mit einer unbestimmten Größe an Zufälligkeiten und situationsbezogenen Schlussfolgerungen zu identifizieren ohne den Malus einer historischen Schuld oktroyieren zu können. Weiche und harte Standortfaktoren generieren sine dubio einen Atlas der Sesshaftigkeit, in überspitzter Form eine neolithische Revolution
des Gedankengutes. Das stochastische Element kann aber nicht exkludiert werden. Die Rechtsschule in Pavia war im 11. Jahrhundert Zentrum juristischer Kompilationen („The School of Pavia was famous…“).[2] Die Grundkodifikation Edictum Rothari erhielt dabei eine stetige Ergänzung durch Edikte und Kapitularien späterer Herrscher für das regnum Italiae bis zum Salier Heinrich III. Diese Kompilation ging als das liber Papiensis in die Rechtsgeschichte ein und erhielt durch Paveser Rechtsgelehrte wie Walcausus oder Widolinus weitere Glossen und wurde als rechtskompilatorische Lombarda editiert seit dem Ende des 11. Jahrhunderts.[3] Nur blieb dieser rechtswissenschaftliche Zweig in seiner Bedeutung im 11. Jahrhundert stehen und erfuhr keine Pflege und Anpassung zwecks Longävität. Offenbar spielte die genealogische Reputation nur eine subsumierte Rolle, denn Pavia konnte seine Bildungstradition bis zum Imperator Lothar I. aufzeigen. Das Gründungsdatum der Universität Pavia wird jedoch erst mit 1361 angesetzt. Und Bologna? Die Universitas Bononiensis – losgelöst von etwaigen Gründungsdiskursen – war spätestens seit der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts oder eben auch von Anfang an für ihre Rechtswissenschaften berühmt. Das stochastische Faktum ist aber auch ein gordischer Knoten und verlangt nach einer multiperspektiven Ursachenforschung. Es müssen andere Ursachen tätig gewesen sein!
Und in der Methodik lag ein wesentlicher Baustein nicht nur für den Aufschwung, sondern in der Verhinderung einer Stagnation. Wenn Wissenschaftszweige methodisch neue Wege gehen, dann können sich sowohl Lehrende als auch Lernende schwer der Anziehungskraft dieser Bildungszentren und dem Sog von Innovation, Mobilität und vermeintlichen Erwartungsdrang in der universitären terra incognita entziehen. Paris konnte für die spätere Sorbonne zu Beginn des 12. Jahrhunderts Grundlagen schaffen in der Theologie. In Bologna ebneten die juristischen Zirkel und deren anhängende Diskurse den Weg in die universitäre Ruhmeshalle. Der Rechtslehrer Irnerius, scientae legalis illuminator genannt, war dabei einer der ersten Personen, die die Glossentechnik nicht nur für die Behandlung des langobardischen Rechts verwendeten, sondern auch für die Römischen Rechtsquellen. Offenbar wirkte die Tätigkeit des Irnerius so, dass in späteren Zeiten Bologna – wie einst Berytus in der Spätantike – mit dem Epitheton nutrix legum versehen wurde.[4] Das juristische Standing konnte bereits Mitte des 12. Jahrhunderts in Bologna Kirchenrechtslehrer bewegen, ein dem Corpus Iuris Civilis artverwandtes Glossenwerk zu erstellen, das als Decretum Gratiani in die standardisierte Kirchenrechtsbibliographie Eingang fand.[5] Zumindest in der Weiterveräußerung der Gedankengänge glich Bologna damit einem Perpetuum mobile, um als Mother of Law alleine schon den Wohlverhaltensmodus der anderen Rechtsschulen zu saturieren, aber auch zugleich einen nutritiven Nimbus zu garantieren.
Obwohl in der Literatur die Protektion durch einen Herrscher als nicht evident betrachtet wird, ist die Privilegienvergabe im Mittelalter mindestens eine administrative Hilfe. Alleine die Berücksichtigung der Tatsache, dass diese neuen Körperschaften keine tradierten Rechtsstellungen in städischen Kommunen ihr Eigen nennen konnten, interpretierte jede äußere Hilfe durch legitimierte Rechtsinstitutionen als eine Existenzberechtigung. Es bedurfte eben mehr als nur ein Epitheton. Berytus nutrix legum konnte im orientalisch geprägten Einzugsgebiet durch die Protektion der Imperatoren in der Spätantike die Obsoleszenz und fehlende administrative Verankerung auf Abstand halten. Der Grundstein für das Wirken jener Rechtsschule wurde personell durch Rechtsgelehrte wie die Prätorianerpräfekten Papinian und Ulpian verursacht, aber auch die Kodifizierung ihrer Schriften im Zitiergesetz[6] von 426 durch den weströmischen Kaiser Valentinian III. und den oströmischen Kaiser Theodosius II. förderte den Nimbus der Rechtsschule von Beirut. Kaiser Justinian I. bestimmte dann zu Beginn des 6. Jahrhunderts als rechtsautoritative Trias die Rechtsschulen Rom, Konstantinopel und eben Beirut. Diese Rechtsschulen waren offiziell auch an der Kompilation des römischen Rechts Corpus Iuris Civilis beteiligt. Die fehlende Protektion und die islamische Expansion verursachten anschließend einen Bedeutungsverfall der lateinischen Sprachinsel. So wie einst die Prätorianerpräfekten als hohe Funktionsträger des Staates in Berytus lehrten und damit einer Rechtsschule die auctoritas verliehen, mussten die mittelalterlichen Lehreinrichtungen durch Privilegienvergabe ihre rechtliche Marginalität verhindern. Das Privileg Authentica Habita von 1155 bildete für Bologna nicht den Gründungsakt, aber die Rechtsschule in Bologna erhielt eine Rechtssicherheit. Ob dieses Privileg vom Staufer Barbarossa explizit für Bologna ausgestellt wurde, kann historisch nach aktueller Quellenlage nicht apodiktisch formuliert werden, aber der Legende nach entsprang dieses Privileg aus einer Bologneser Petition:
„Es wird nämlich darin erzählt, dass, als der Kaiser um Pfingsten 1155 vor Bologna lagerte, nebst den Bürgern auch die Doctoren und Scholaren der Stadt hinauszogen um den Kaiser zu sehen. Dieser erkundigte sich, warum sie Bologna zum Studienorte gewählt hätten, und wie sie von den Bürgern behandelt würden. Ein Doctor antwortete auf die letztere Frage, das sie im Ganzen zufrieden seien, nur müssten sie Klage erheben, dass die Bürger Schulden der Nachbarn von ihnen zurückforderten. Diese verkehrte Art möge er bessern, damit die Studierenden hier sicher sein könnten. Friedrich verkündete dann, nachdem er die Fürsten der Reihe nach um Rath gefragt hatte, das Gesetz, womit er die Studenten sowohl beim Kommen, als beim Verweilen und Zurückkehren, in seinen Schutz nahm.“[7]
Halten wir uns an die historischen Fakten, argumentieren wir scholastisch nach der Quellenlage, und das auf dem Reichstag zu Roncaglia 1158 erlassene Reichsgesetz Authentica Habita fand Eingang in das Corpus Iuris Civilis ohne explizite Nennung der Universitas Bononiensis als Schutzprivileg für alle Schulen. Zudem wären die Rechtsgelehrten aus Bologna als Glossatoren daran interessiert gewesen, ihre Rechtsschule im Besonderen hinsichtlich eines Alleinstellungsmerkmals zu erwähnen. Schon die Bologneser Glossatoren Johannes Bassianus und Azo argumentierten im 12. Jahrhundert mit dem vermeintlichen Privileg einer Rechtsschule, da Imperator Theodosius die Stadt gegründet habe. Unabhängig davon, welche Personenkreise Friedrich Barbarossa 1158 dazu bewogen,[8] dieses Reichsgesetz zu erlassen, waren die Angehörigen der Lehranstalten kaiserliche Schutzbefohlene. Die Verneinung des Verfolgungsrechts bildete dabei eine der Säulen des kaiserlichen Edikts. Im Verfolgungsrecht waren prinzipiell Retorsionen im kommunalpolitischen Flair an der Tagesordnung. Studenten mussten zu ihrem eigenen Nachteil Regressansprüche ihrer Landsleute über sich ergehen lassen. Dieser Rechtsgrundsatz widersprach dem Rechtsverständis aus der renovatio des römischen Rechts, aus der heraus das auf die Nation bezogene Haftungsrecht obsolet war. Der administrative Rechtskörper war geschaffen, der nicht ohne weiteres den Repressalien und pogromanfälligen Kommunalbediensteten ausgeliefert war. Zudem konnte den Studentenvereinigungen Rechtsschutz dahingehend gewährt werden, dass sie eine zivil- und strafrechtliche Jurisdiktion über die Studenten erhielt. Und Bologna vergegenwärtigte sich stets dieses Privilegs. Ein noch stärkeres Geflecht von Existenzfragen und Privilegienvergabe scheint für die Lehranstalten gültig gewesen zu sein, die den administrativen Kern der späteren Sorbonne in Paris bildeten. Die nachweisbare Privilegienvergabe war dort seit dem Jahr 1200 durch den damaligen französischen König Philippe August dokumentiert. Und 1312 formulierte Philipp der Schöne für die Lehranstalt in Orléans mit Bezug auf die Privilegien:
„(…) ceterum ut doctores, magistri et scolares libentius ad stadium ipsum declinent et tanto ferventius ibidem studentes proficient quanto plus honorari se sentient, illud privilegiis, beneficiis et libertatibus munientes (…).”[9]
Dass das mit der Blüte und dem Glanz einer Lehranstalt nur als scheinbare Existenzgarantie zu interpretieren wäre, zeigte deutlich die warnende Stimme des Papstes Gregor IX. in einem Brief vom 23. November 1229 an den Bischof von Paris, in dem Gregor IX. die Existenzgrundlage gefährdet sähe für die Universität Paris bei Nichtrückgabe alter Rechte.[10] Zudem wurden zu Beginn des 13. Jahrhunderts sogenannte Konservatoren in die universitäre Administration integriert, deren Tätigkeitsfeld darin lag, die verbrieften Rechte zu wahren und vor mutmaßlichen Übergriffen zu schützen. Oft war der Drang zur Bewahrung in einer Notwendigkeit, dass Päpste oder Könige persönlich diese Bewahrer einsetzten, damit Universitätsmitglieder an diese Konservatoren appellieren konnten bei internen oder externen Privilegienverletzungen. Für Bologna selbst sind in der Frühphase der dortige Archidiakon und ein Dominikanermönch belegbar als Appellationsinstanzen, die zugleich in Kooperation mit den taxatores[11] über Mietpreisfestlegungen, Lebensmittel- und Bücherbeschaffungen wachten die Jurisdiktion ausübten. Ohnehin waren von Beginn an die päpstlichen Legaten involviert in die universitären Statuten. Als 1506 Bologna in die Hegemonie des Kirchenstaates fiel, waren an der Universitas Bononiensis ein Kardinallegat und die reformatores die legislativen Autoritäten.[12]
Die eingangs getätigten Äußerungen verlieren nicht an Durchschlagskraft, da der Faktor Mensch eben in seinem facettenreichen Engagement den Grundstein legte für eine nachhaltige Administration. Für Paris oder im Besonderen Bologna konkludierte man über die steigenden Schüler- und Lehrerzahlen einen schnelleren administrativen Wandel in der Organisationsstruktur. Neben der Einführung der Genossenschaften, der Corporationen, wies man das Studentenheer nicht durch Restriktionen in die organisatorischen Schranken, sondern kümmerte sich mit verstärktem Nachdruck um den Erwerb von Universitäts- und Wohnbautenbauten. Die anfänglich in Privathäusern, Stadt- und Kirchenbauten gehaltenen Vorlesungen veranlassten die taxatores zur Kreierung von Studentenhäusern. Die sapienza war geboren, ein Gebäudetyp namens domus sapientiae, bei dem die Räume um einen viereckigen Innenhof angeordnet waren. Aus der sapienza ging in späteren Zeiten das offizielle Universitätsgebäude hervor mit Vorlesungs- und Disputationseinrichtungen, Bibliothek oder einer Graduiertenecke. Das noch heute auch in der Funktion existierende Collegio di Spagna in Bologna vermittelt einen Eindruck vom universitären Bauverständnis.[13] Dieses Konglomerat an Ursachen und partiellen Zufälligkeiten bedingte den Ruf und die Etablierung solcher Schulen wie Bologna. Darüber hinaus konnte das Peciasystem in Bologna als Gradmesser für die zunehmende Popularität herangezogen werden. Eine vorindustrielle Fließbandproduktion war dieser Kopiertechnik zu eigen. Grundsätzlich gab es in den mittelalterlichen Bibliotheken exemplaria, also Kopien der zu studierenden Auszüge aus den Werken. Diese Kopien bestanden aus einzelnen Heften, häufig zu vier Folien, den peciae. Die Kopisten erhielten nun pecia für pecia und wurden dahingehend auch monetär abgerechnet.[14] In der Praxis zeigte sich dann, dass die Kopisten nicht immer aus einem exemplarium versorgt wurden für die Kopistentätigkeiten, sondern die peciae verschiedene Handschriften aufzeigten. Diese Vervielfältigungsmethode war zeitlich effektiver, aber verursachte eine Handschriftenstaffelei für ein Exemplarium. Um nicht der illegalen Vervielfältigungsmethode den Nährboden zu bereiten, wurden in Bologna die peciarii gewählt, ein Gremium aus sechs Universitätsmitgliedern mit exekutiven Kompetenzen. Der amerikanische Hstoriker Lynn Thorndike schrieb treffend zu den peciarii:
„When elected, they shall have full freedom in the matter of peciae and jurisdiction of taking cognizance, pronouncing and executing in cases of peciae and corrupt texts. By reason of defects in peciae they may and should demand from certain copyists and correctors an oath that they will report peciae which they find corrupt. We will that a stationer, for each corrupt pecia which he gives out and for each offense, shall incur a fine of ten solidi Bolognese, and nonetheless he shall be required to reimburse the scholar [who borrowed the pecia] at double. Half the penalty shall go to the university, half of the remaining half to the peciarii, the remainder to the denouncer.”[15]
Und zudem hatte in den Anfangsjahren der Bologneser Lehrkörperschaft die Einrichtung mit Irnerius einen intellektuellen Potentaten der Glossatoren. Daher gilt es, diesen Punkt einer besonderen Berücksichtigung zuzuführen.
Die Glossatoren als Urknall für die Rezeption des Römischen Rechts
Die Rechtslehrer vor 1100 sollen nicht in ihren Bemühungen diskreditiert werden, aber rechtsgeschichtliche Revolutionen bei der Bewältigung der kompilierten Rechtstexte – insbesondere für die Rezeption des Römischen Rechts – sind nicht überliefert im Frühmittelalter. Etwaige Kontinuitätstheorien hinsichtlich der Interpretationsmethoden sind quellentechnisch nicht dicht konkludiert oder in der Fachwissenschaft mit der Dezenz belegt.[16] Zumindest konnte man – wenn man die Begrifflichkeit des Urknalls als zu plastisch ablehnt – bei den Rechtsschulen ab 1100 eine gewisse Motivation bei der Übernahme von Rechtsstoffen konstatieren. Als Beleg dafür sei der Bologneser Kirchenrechtler Gratian angeführt, dessen Glossen zum Kanonischen Recht eine sofortige wissenschaftliche Bearbeitung erfuhren.[17] Die Ursprünge sind erklärungstechnisch vage und mögen aus dem Substrat stammen der politisch-kirchlichen Auseinandersetzungen des 11. Jahrhunderts und der Suche nach den dem Justinianischen Gesetzeswerk anhaftenden Digesten.[18] Der Rechtshistoriker Franz Wieacker scheint am ehesten noch diesem Akt der Professionalisierung der Rezeption in der Erklärung gerecht zu werden, indem er die Hochkulturen auf dem Boden der Vorkulturen setzt, um dann in ein anspruchsvolleres Terrain zu gelangen.[19] Unabhängig davon, der Aufschwung war eine beobachtbare Komponente, nicht nur in Bologna. Auch die uns heute geläufige Rechtsfortbildung procedere de similibus ad similia, also die Orientierung an ähnlich gelagerten Fällen, wurde methodisch verfeinert, und damit wurde der Rechtsstoff einer Verwissenschaftlichung zugänglich gemacht. Der Rechtsgelehrte Irnerius aus Bologna war dabei einer der ersten Glossatoren gewesen, die den Rechtsfortsatz procedere … methodisch begleiteten.[20] Darüber hinaus schuf der Urvater der Glossentechnik den Verständniszugang über vergleichende Stellen in den Libri legales des Justinian. Concordantia discordantium, diesen methodischen Rechtsgrundsatz legte Irnerius seinen juristischen Jüngern in die glossierten Digesten. Justinians Rechtswerk musste frei von Widersprüchen sein, da sie es als geltendes Recht sahen. Zudem erfolgte über die sukzessive Einarbeitung der Widerspruchsfreiheit die – psychoanalytisch betrachtet – charakteristische Ausrichtung auf Autoritäten.[21] Ohnehin schien in Abkehr zu den ravennatischen Juristen in Bologna um 1100 mit der Übernahme der exegetischen Methode der Langobarden der Grundstein für den Ruhm der Bologneser Rechtsschule gelegt worden zu sein, unter Federführung des Rechtsgelehrten Irnerius. Wie schrieb doch der Rechtshistoriker Rudolph Sohm treffend und von mir auch ohne einschränkende Kommentierung versehen:
„Das Neue, wodurch diese Schule von Bologna zu der ihr voraufgehenden Rechtsschule von Ravenna (…), daß sie anstelle der zusammenfassenden auszugs- und lehrbuchmäßigen Art der ravennatischen Juristen die von den Langobarden gehandhabte exegetische Methode, eine durch Glossen (dem Gesetzestext beigefügte erläuternde Bemerkungen) in das Einzelne dringende Bearbeitung des Corpus juris setzte. Wie die Langobarden bei Behandlung des Liber Papiensis, so fanden auch die Glossatoren bei Erklärung der einzelnen Stellen des Corpus juris ihre Kraft in der Auffindung der zugehörigen anderen Stellen (der sog. Parallelstellen), um den Inhalt des römischen Rechts durch eine über den Buchstaben des Gesetzes sich erhebende, Widersprüche ausgleichende, Verwandtes in inneren Zusammenhang bringende, alles einzelne und doch zugleich das ganze umfassende Erläuterung herauszustellen.“[22]
Irnerius konnte u. a. in Zusammenarbeit mit seinen Schülern Bulgarus und Hugo über die Bibelexegese und die scholastische Philosophie die Rechtstexte aus dem Corpus iuris cicilis bearbeiten. Die vorgenannten Schüler waren zudem daran beteiligt, als Ratgeber für Friedrich I. Barbarossa auf dem Reichstag zu Roncalli den rechtlichen Rahmen dem Kaiser zu vermitteln zwecks inhaltlicher und formaler Ausformulierungen in der Authentica Habita. Diese Personalsituation verdeutlichte bereits für die Mitte des 12. Jahrhunderts eine Durchdringung der Reichskanzlei mit dem Gedankengut aus der Bologneser Rechtsschule. Als Motor der Glossen erwies sich dabei die Wiederentdeckung der Digesten, expressiv verbis in den Littera Florentina demonstriert, die in Bologna von Irnerius abgeschrieben und mit Glossen versehen wurde. In diesen Lehrbüchern, auch Pandekten genannt, gab es die Zusammenstellung aus dem Codex Iustinianus, den Institutiones, dem Privatrecht und einzelne Strafrechtsaufzeichnungen.
Das Gleichnis mit dem Urknall lässt die Vermutung zu, Irnerius mit dem Phoenix aus der Asche zu identifizieren. Der Alltagswahrscheinlichkeit eher zugeordnet, das soziale und intellektuelle Umfeld prägten den Bologneser Rechtslehrer stärker als das Bejahen oder Verneinen jeglicher Kontinuitätstheorien hinsichtlich der glossatorischen Techniken im Corpus iuris civilis. Und hier liegt es nahe, die Markgräfin Mathilde von Tuszien in das quellentechnisch dunkle Kapitel der Anfangsjahre der Bologneser Rechtsschule zu katapultieren. Warum nun die Markgräfin? Der mittelalterliche Geschichtsschreiber Burchard von Ursberg formulierte wie folgt in seiner Chronik:
„Eisdem quoque temporibus dominus Wernerius libros legum, qui dudum neglecti fuerant, nec quisquam in eis studuerat, ad petitionem Mathilde comitisse renovavit et, secundum quod olim a dive recordationis imperatore Iustiniano compilati fuerant, paucis forte verbis alicubi interpositis eos distinxit. In quibus continentur instituta prefati imperatoris, quasi principium et introductio iuris civilis. Edicta quoque pretorum et edilium curulium, que rationem et firmitatem prestant iuri civili, hec in libro Pandectarum, videlicet in Digestis, continentur. Additur quoque his liber Codicis, in quo imperatorum statute describuntur. Quartus quoque liber est Autenticorum, quem prefatus Iustinianus ad suppletionem et correctionem legume imperalium supperaddidit.”[23]
Dieser Auszug ist ein Hort der rechtsgeschichtlichen Begriffe aus dem Corpus iuris civilis, aber der Historiker mahnt zunächst und zurecht die problematische Konstellation an. Auf Bitten der Mathilde (ad petitionem Mathilde) nahm also ein Wernerius glossatorische Aktivitäten vor in den Rechtsbüchern, die lange Zeit unbeachtet blieben (qui dudum neglecti fuerant, nec quisquam in eis studerat). Das nährt den Boden der Theorie, wonach im 11. Jahrhundert die Voraussetzungen für die Wiederentdeckung und die Neuausrichtung in der Bearbeitung des römischen Rechts erfolgten. Mathilde als Auftraggeberin? Es ist nicht ausgeschlossen, aber die Bezugsgröße ist hier imperator Lotharius, der erst Jahre nach dem Tod der Mathilde zum König gekrönt wurde?! Unabhängig davon, Burchard muss Kenntnisse oder Zugang zu den (Rechts-)Quellen besessen haben, da seine verwendeten Fachtermini eine fachliche Nähe zur Rechtskultur um/ab 1100 offenbaren (libros legum, qui…; verbis alicubiinterpositis eos distinxit). Auch in der Bezeichnung dominus Wernerius zeigt sich bei Burchard eine Realitätswiedergabe, da die Bologneser legum doctores diese Titulierungen ihr Eigen nennen konnten im 12. Jahrhundert.[24] Ob in der fehlerhaften Konstellation von Mathilde und Lothar von Supplinburg der archimedische Punkt zur Quellenkritik der Burchardschen Chronik anzusetzen wäre, bleibt in dieser Ausarbeitung ohne Einkalkulierung, da die rechtsgeschichtlichen Fachtermini die größere Palpitation verursachen. Da Wernerius als explizite Namensnennung in der Chronik erfolgt, gehört diese Personalie einer näheren Begutachtung unterzogen.
Inventio Irnerii?
Die Namenstitulierung ist zu Beginn des 12. Jahrhunderts regelmäßig und in leichter Abwandlung in den zur Verfügung stehenden Schriftquellen dokumentiert. Gehen wir mit einer im Nanobereich liegenden Quellenkritik zu Werke, können die Namensformen Guarnerius, Vuarnerius oder Warnerius oder eben Wernerius aus der Burchardschen Chronik als Synonyme für eine Namensbezeichnung – nämlich die des Irnerius – betrachtet werden. Gedenkt man sich der kolportierten Ausnahmestellung dieses Rechtslehrers, können aber berechtigte Zweifel angebracht werden. Der juristische Urvater der Bologneser wird in den Quellen nicht explizit als Lehrer oder Professor des römischen Rechts geführt. Lediglich vage Andeutungen sind belegt, so wie auf dem Konzil von Reims 1119, als Papst Calixt II. den Kirchenbann gegen den letzten Salier Heinrich V. aussprach und in diesem Zusammenhang ein Guarnerius Bononiensis legis peritus namentlich Erwähnung findet im kaiserlichen Lager.[25] Natürlich geraten Personen in Vergessenheit, aber ein Erklärungsmodell über die persona non grata oder der geschichtliche Fußnotenmodus lagen bei diesem Hauptakteur während der Bologneser Gründungswirren nicht vor. Gut möglich ist, dass nachfolgende Juristengenerationen der Ehrfurcht halber den Mythos Irnerius nicht mit in das Spiel brachten. Auch die wissenschaftlichen Diskurse der Rechtsgelehrten Martinus Gosia und Bulgarus im 12. Jahrhundert, immerhin Schüler des Prototyps der exegetischen Methode für das Corpus iurus civilis, sind nicht argumentativ durchsetzt mit der Rückführung auf Irnerius. Ob es sich dabei um unvollständige Argumentationsketten handelt oder das Pseudonym Irnerius keinen Stellenwert besaß und damit den ihm zugewiesenen Rang zur Frühphase der Università di Bologna nicht ausfüllt, bleibt vorenthalten, nährt aber die These von einer fiktiven Person. Zudem war Bologna antistaufisch eingestellt, und die legum doctores sollten nicht in die Kampagne um kommunale Freiheiten eingebracht werden dürfen. Was blieb da alternativ anderes als eine gereinigte Vergangenheitsbewältigung? Insofern hatte Johannes Fried recht, als er 2001 formulierte:
„Wiederholte Umbrüche in der politischen Haltung der Kommune, die sich auch anderweitig manifestierten, schlugen sich somit in dem Bild nieder, das von der Frühgeschichte des Studiums gezeichnet wurde. Der reale Wernerius auf des Kaisers Seite – er passte nicht zu den politischen Interessen der Kommune um 1220/50, als man sich dort der Anfänge des Studiums besann. So wurde er verdrängt, vergessen, verschwand er aus der Geschichte, wurde sein Handeln ungeschehen gemacht und Werner zu der Kunstfigur Irnerius. (…) Der ideale Irnerius aber, der alleinige Schöpfer der Rechtswissenschaft, der gefeierte Begründer des ´Bologneser´ und Urheber von Bolognas Ruhm, der nun ins Leben trat, war aller juristischen und politischen Tagesgeschäfte entrückt, ward in eine ideale Umwelt versetzt, in die Schule und Lesezirkel nämlich der erneuerten Rechtsbücher, tatsächlich zur Fiktion gemacht und zum Mythos gesteigert.“[26]
Welcher der Legisten schuf für Bologna jedoch die Grundlage für den Mythos Irnerius? Der große Accursius nimmt im 13. Jahrhundert den Irnerius nicht bei Gewähr in der Glossa ordinaria, dem monumentalen Abschluss der mehr als einhundertjährigen Glossatorenschule in Bologna. Die Glossa umfasste alle zu der Zeit bekannten Bemerkungen zum Corpus iuris civilis. „Quidquid non agnoscit glossa, non agnoscit curia“, hieß es nicht ohne Grund in den Rechtsstuben des Spätmittelalters, aber ein Irnerius war nicht Gegenstand dieser Glossenzusammenfassung. Es war ein Legist namens Odofred, der den Irnerius als lucerna iuris literarisch den Weg ebnete. Nach Friedrich Karl von Savigny war Odofred deshalb schon qualifiziert als Nachrichtengeber für die Anfänge der Bologneser Schule, da er im 13. Jahrhundert als Zeitgenosse des großen Accursius wenige Rechtsgelehrtengenerationen als Zwischenstationen vorliegen hatte.[27] Friedrich Karl von Savigny kann nicht kritisiert werden ob der geringen Sensibilität für den Stellenwert des Vergessens in der Vergangenheitsbewältigung von Menschen, aber diese zeitliche Nähe zum vorliegenden Handlungsstoff ist nur ein oberflächlicher Vorteil für den Historiker, denn quellentechnisch ist der Glossenapparat des Accursius das stärkere Gegengewicht zu Odofreds Quellenwert. Und Irnerius´ Marginalberücksichtigung in der Glossa ist kein Affront gegen den repertorem romani iuris, sondern entsprach den methodischen und didaktischen Ansprüchen aus dem gängigen Behandlungsrepertoire zum römischen Recht. Obwohl nachfolgende Historikergenerationen durchaus starke Kritik am Stellenwert des Odofred äußerten, nahm man des „Odofreds Gefasel“[28] auch hin bezüglich der Anfänge der Universitas Boloniensis. Ein klassisches Dilemma. War Odofreds „racconto fantasioso“ ein fachwissenschaftlicher Beitrag zu den Anfängen der Gelehrtenschule in Bologna oder verhinderte er mit seinen Irnerius-Anmerkungen zum Corpus iuris civilis eine adäquate Quellenkritik und –aufarbeitung im unklaren Konglomerat aus Glossen und Akteuren um 1100? Zumindest konnten bisher unsägliche Diskurse vermieden werden, denn es stünde ob des dürftigen Quellenmaterials um die zielführenden Kontroversen nicht gut. Es gibt undatierbare und unpräzise Hinweise auf allerlei Akteure, die wohl irgendwie etwas mit der renovatio des römischen Rechts zu tun gehabt hätten: Peppo, Warnerius, Lanfrank, ein Guarnerius Bononiensis im Dienste des letzten Saliers Heinrich V. oder der Vertraute der Markgräfin Mathilde. Ob es sich dabei um ein und dieselbe Person handelte, konnte von Beginn an dem Quellenmaterial nicht entnommen oder aus diesem konkludiert werden. Nur Odofreds Äußerungen vermitteln dahingehend eine Korrelation. Und der respektable Rechtsgelehrte, immerhin Autor der Lecturae in Codicem oder der Summa de libellis formandis – anerkannte Begleitwerke zum römischen Recht – ging in die Literaturgeschichte nicht als Urvater des narrativen Genres mit einer guten Ingredienz Laissez-Faire ein. Der italienische Jurist und Dichter Cino da Pistoia, von Koryphäen wie Dante oder Petrarca geadelt, war Verfasser der qualitativ hochwertigen Lectura in Codicem, eines Begleitkommentars zu Kaiser Justinians Codex Constitutionum. Und eben dieser Kommentar lehnte sich an Odofreds Lecturae in Codicem. Da Pistoias Schüler war Bartolus de Saxoferrato, der die Kommentatorenschule zum Höhepunkt führte (Bartolisten) und die methodische Aufarbeitung des römischen Rechts verfeinerte gegenüber den Glossatoren. Auch er nahm sich seines Lehrmeisters in perpetuam memoriam an. Schauen wir uns die Odofredsche Argumentation für den Irnerius an, um ein ganz individuelles Meinungsbild zu erhalten, ohne aber den Anspruch auf Oktroyierung der Odofredschen Thesen zu vermitteln:[29]
Die Abhandlungen zum römischen Recht waren in einer zeitlichen Abfolge von Rom über Ravenna nach Bologna gelangt. Dort beschäftigte sich dann ein gewisser Irnerius mit ihnen und dozierte über sie.
Grundsätzlich erfolgte die Zusendung nicht im Konvolut, sondern in Teilen trafen die Libri legales in Bologna ein. Zuerst kam der Codex, dann die Digesten, schließlich die Institutionen und danach das Informatium ohne Tres partes. Zum Schluss wurden die Tres partes und die Authentiken verschickt.
Odofreds Nomenklatura gibt Auskunft dahingehend, dass das Infortiatum nach seinem Autor Infortiatus benannt wurde. Oder er bringt Irnerius in die Erklärung ein, indem er ihm anträgt determiniert zu haben, dass das Infortiatum als auctum vel augmentatum betrachtet werden könne.
Odofred nimmt Stellung zum Erzvater der Jurisprudenz. Nicht etwa ein Magister Peppo wäre die lucerna iuris gewesen, die universitäre Präambel der renovatio, sondern eben der Irnerius.
Odofred trägt dem Irnerius eine universale Bildung an, der neben dem Studium in legibus ein Studium in artibus sein Eigen nennen konnte. Auf dieser Gelehrtenplattform war es dieser Grandeur möglich,
ein Emphyteuse-Leitfaden zu verfassen und Vorlesungen zu den Libri legales zu halten.
„Vorsicht ist die Mutter der Weisheit“, heißt es in einem Aphorismus. Und dem ist aus quellentechnischer Sicht eines Historikers nichts hinzuzufügen. Da werden undifferenziert unterschiedliche Erklärungen geliefert für das Infortiatum. Und die Vollständigkeit in der Nomenklatura lässt zu wünschen übrig, denn nicht der Irnerius oder ein gewisser Infortiatus hätten Teile der Libri legales entdeckt und tituliert, sondern das Volk von Pisa, als man zufällig in einer Kirche in Pisa drei Teile der Digesten auffand, die offenbar durch die Wirren der langobardischen Expansion unter König Aistulf aus Ravenna Mitte des 8. Jahrhunderts nach Pisa verfrachtet wurden. Danach war das Infortiatum als Mittelstück der Libri legales so geheißen, weil es die fortissimas leges beinhaltete.[30] Was denn nun? Wenn Auffindungsgeschichten derart divergieren ohne nennenswerten Diskurs, dann gab es keine mündliche Überlieferungskultur zu diesem Sachverhalt. Und der Suggestion und der racconto fantasioso waren Tür und Tor geöffnet. Der diabolische Mehrwert dieser Mythenbildungen in der Geschichtswissenschaft liegt in dem Umstand, dass in Pisa tatsächlich die Pandektenhandschrift aus dem 6. Jahrhundert vorlag. Die Littera Pisana, Grundlage der fachwissenschaftlichen Diskurse zu den Digesten und möglicherweise in direkter Linie aus der Kopierkanzlei des Kaisers Justinian stammend, war im Quellenwert für die Konstruktion einer Entdeckungsgeschichte verführerisch, allerdings konnte auch sie nicht den Disput erklären hinsichtlich ihres eigenen Aufbaus. Der Legende nach erfolgte in drei Schritten in Pisa die Entdeckung der vor Aistulf in Sicherheit gebrachten Libri legales, aber der formale Aufbau der alters her bekannten Littera Pisana ist zweibändig.[31] Die Dreiteilung Digestum vetus, Infortiatum und Digestum novum entstammt also einer Vulgata jüngeren Datums, einer nicht vorliegenden Vulgata älteren Datums oder entsprang der Eigenmächtigkeit einer Rechtsschule bei der Vervielfältigung der Digestensammlung. Da die Littera Pisana – auch Codex Florentinus (Florentina) genannt – fachwissenschaftlich unisono als die älteste Handschrift der Digesten statuiert ist, bleibt bei aller Theorie das Diametrale im formalen Aufbau von der Florentina zu den Vulgathandschriften der Rechtsschulen im Mittelalter das Kuriosum.
Persönliches zu Unklarem
Greifen wir die Florentina als Ausgangspunkt der Betrachtungen auf, so bleibt der Stellenwert des namensvielfältigen Irnerius in Bologna zu hinterfragen. Setzt man – nach aktueller Quellenlage durchaus bedenkenfrei – dogmatisch die Florentina an den Anfang jeglicher Digestenrezeption, erfolgt zwingend die Frage nach der Motivation für die nicht detailgetreue Übernahme der Florentina in die Digestenvulgata der Bologneser (Codex Boloniensis). Diese Unvollständigkeiten konnte spätestens der juristische Humanismus entlarven. Die Digestenvulgata trägt durchaus punktuell zum besseren Textverständnis bei, lässt das Griechische aber vollständig aus, einzelne Teile werden in das Lateinische übersetzt oder nicht mit der Glossentechnik bearbeitet. „Graeca non legentur“, hieß es bei den Bologneser Rechtslehrern, und die aus der Absage an die griechischen Elemente der Rechtswissenschaft resultierenden Unvollständigkeiten und Fehlerhaftigkeiten waren denn auch die Grundlage für die humanistische Kritik an den Glossatoren.[32] Zumindest scheint die Bologneser Jurisprudenz über die Initiativbearbeitung des Irnerius den ganzheitlichen Ansatz in der Rezeption des römischen Rechts vermieden zu haben. Wurde zum Preis einer besseren Lesbarkeit eine didaktische Reduktion vollzogen? Die Frage kann nach aktueller Quellenlage nicht beantwortet werden. Und woher hatte Irnerius nun die Bezugsquelle für die ersten Abhandlungen zur späteren Digestenvulgata in Bologna? Offensichtlich war Pisa der Aufbewahrungsort der Florentina, und 1406 mit dem Verlust der Eigenständigkeit wurde die Digestensammlung nach Florenz gebracht, wo sie seitdem in der Biblioteca Medicea Laurenziana aufbewahrt ist. Da Glossen in dieser Digestenhandschrift in langobardischer Sprache verfasst sind, bleibt zunächst nur der italienische Raum zu konstatieren als Herkunftsort. Die genauen Hintergründe zur Aufbewahrung während oder nach dem Ende der Langobardenkönige sind indes nicht bekannt. Irnerius mag die Vervielfältigungsmöglichkeiten erhalten haben. Ob nun Pisa oder das gelegentlich genannte Amalfi in der Provinz Salerno die tatsächlichen Aufbewahrungsorte waren zu Lebzeiten des Irnerius, kann quellentechnisch nicht konkludiert werden. Nimmt man die Ereignisgeschichte als Maßstab, wäre aber Amalfi auf Grundlage strategischer Erwägungen nach dem Ausschlussverfahren obsolet in der Literatur. Obwohl die Seefahrerrepublik mit der ersten Seerechtskodifikation (Tabula Amalphitana) Rechtsgeschichte schrieb, begann im 11. Jahrhundert der Niedergang der Stadt. Timor Normanorum, hieß es in jenen Jahrzehnten, als u. a. der Normannenherzog Robert Guiskard 1073 Amalfi eroberte. Und Mitkonkurrent Pisa konnte spätestens zu Beginn des 12. Jahrhunderts die militärischen Auseinandersetzungen für sich gewinnen. Gut möglich ist, dass in diesen Wirren die Digestensammlung nach Pisa kam, so wie dann später der Transport erfolgte nach Florenz („…, upon the capture of Amalfi in 1135, discovered a manuscript…“).[33] An welcher Aufbewahrungsstation Irnerius seine juristischen Zelte aufschlug zwecks Rezeption mittels der Florentina, bleibt Spekulation. Ausgeschlossen scheint auch nicht, da die Quellenlage keine stringente Entwicklung zulässt, dass Irnerius im Besitz einer unbekannten Vulgatafassung der Florentina war. Hier kann Theodor Mommsen herangezogen werden, der nach Abgleich der Vulgatahandschriften zum Ergebnis kam, dass neben der Florentina noch ein Codex Secundus als weitere Vervielfältigungsgrundlage existiert haben müsse. Ob dieser Codex Secundus ein Plagiat der Florentina (Codex Primus) war, überhaupt existierte oder nur als theoretisches Konstrukt das Verhältnis der Vulgatahandschriften zur Florentina erklären soll, bleibt dem Diplomatiker überlassen. Es kann aber als Status quo angesehen werden in der Fachwissenschaft. Griff Irnerius darauf zurück? Und wenn, unter welchem Zugriffspanorama? Aber hier gilt es – so wie einst Mommsen wegen der Vulgatavielfältigkeit das Konstrukt der zweiten Kopiervorlage installierte – der Supposition eine Restriktion aufzuerlegen.[34]
Gehen wir zu einem weiteren Personalmythos, der schon bei der Inventio Irnerii angesprochen wurde, dort jedoch noch ohne weitere Anmerkungen auskam: Magister Pepo aus dem 11. Jahrhundert und aus Bologna. Oder doch nicht? Echauffierend und motivierend zugleich formulierte der deutsche Historiker Ludwig Schmugge diametral:
„Schließlich existiert eine Reihe von Placita, in denen der Name Pepo vorkommt, doch bei keiner Urkunde ist bis heute die Identifizierung mit dem Vorläufer des Irnerius unbestritten. Gleichwohl kann mit Recht von einer ´rivalutazione di Pepone´ gesprochen werden. Niemand zweifelt mehr daran, daß ´dominus pepo´, der in Bologna angefangen hatte, ´auctoritate sua legere in legibus´ eine historische Person gewesen ist und nicht nur eine Fiktion der Gründungslegende des Bologneser studium.“[35]
Die Argumentation steht in Tradition zu Irnerius, bei dem Hermann Kantorowicz als primus inter pares „Odofreds Gefasel“ zu Irnerius abqualifizierte und gleichzeitig dessen Existenz wider die Quellensituation annahm. Offensichtlich ist der unklare Quellenbestand auch in der (fiktiven) Person des Pepo über die unbewusste oder resignierende Übernahme in den schriftlichen Quellen erfolgt. Wir schauen uns einfach ohne Anflug jeglichen Grolls die quellentechnischen Expertisen an. Und der englische Magister Niger aus dem 12. Jahrhundert konnte hier vorstellig werden:
„Cum igitur a magistro Peppone velut aurora surgente iuris civilis renasceretur initium, et postmodum propagante magistro Warnerio iuris disciplinam religioso cemate…”[36]
Radulfus Niger trennt hier deutlich die Personen. Und das Zitat ist seiner Moralia Regum entnommen, die der Theologe und Jurist Niger in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts im französischen Exil verfasste und in der er die biblischen Bücher der Könige thematisierte. In der Fachwissenschaft steht der Bildungsgrad dieses Theologen nicht zur Disposition. Der Gelehrte Niger pflegte Kontakte zu Johannes von Salisbury oder Thomas Beckett von Canterbury. Niger selbst formulierte es selbstverpflichtend an Wilhelm von Reims so:
„Alios quoque auditores legum et canonum rogavi, qui omnes aut metu labors aut alia diffidentia pauperis auctoris inventa invisere noluerunt.”[37]
Wenn in der Fachwissenschaft die Stellung des Pepo akzeptiert wird[38], so geht es auf eben diese Selbstverpflichtung des Niger zurück, die als indirekter Qualitätsschub für eine Verifizierung des Quellenmaterials dienlich ist. Dass das mit dem Erzvater Irnerius für die Bologneser Frühphase in toto revidiert werden muss, zeigt sich im 6. Kapitel des X. Buch der De re militari, als unter Vorsitz des Kaisers zu einem Tötungsdelikt an einem Minderfreien Gericht gehalten wird und Magister Pepo in diesen Fall später involviert wird. Der Täter soll eine Geldstrafe entrichten („dictaverunt sentenciam in homicidam solam mulctam pecuniariam“)[39]. Dieses Wergeld war rechtshistorisch verankert, entsprach aber durch den Nigerschen Einwand nicht den Rechtsvorstellungen des Pepo. Dieses Gewohnheitsrecht und die Gottesurteile entsprachen nicht der allgemeinen Geltung des römischen Rechts und dienten offenbar nur der Ausbeutung eines Volkes.[40] Das Plädoyer des Magisters Pepo im Prozess gilt nun als kodifiziertes Praxisbeispiel des römischen Rechts („Surrexit autem Magister Peppo in medium, tamquam Codicis Iustiniani et Institutionum bailus, utpote Pandecte nullam habens noticiam,…“). Auch wenn er das Digestum vetus (also die ersten Digesten) noch nicht kannte, so blieb es doch ein Plädaoyes für die Nachwelt. Vermutlich berief sich Niger dabei auf die Variante mit der Eroberung Amalfis durch die Pisaner zu Beginn des 12. Jahrhunderts.
Resümee
Ob der Leser meine Ausarbeitung zur Frühphase der Bologneser Schule in die Empore der Aufklärung hinsichtlich eines fragilen Quellenmaterials stemmt, bleibt ihm überlassen oder muss ihm überlassen werden. Konklusionen können nicht statuiert werden oder bedürfen in der Verifikation einer Mehrheitsentscheidung für die Durchschlagskraft. Und die Situation ist so diametral angelegt, dass selbst Geistesgrößen wie Hermann Kantorowicz, der seinen fachlichen Impetus spätestens bei der Gutachtenerstellung zur Kriegsschuldfrage 1923 attestiert bekam, in Odofreds Äußerungen zu Irnerius ein Gefasel sahen, aber den Erzvater der Bologneser Glossatoren das Gründerstigma anhefteten (Irnerius was undoubtedly the man, who, at the dawn of the eleventh century, founded the school of Bologna). Bleiben wir bei dem, was sich nicht in dem unsäglichen Parteienkampf von angeblichen oder tatsächlichen Bausteinen zur Konstruktion von Gründungsmythen zermartern lässt. Und diese auf Ausgleich, sachlichen Diskurs und dialogbereitem Konstruktivismus gerichteten Punkte möchte ich im Thesenkatalog darbieten:
Der Rechtsgelehrte Friedrich Karl Savigny hat seinen obligatorischen Platz im Semesterapparat für Jurastudenten oder Rechtshistoriker hinsichtlich der enzyklopädischen Wissensstränge für das römische Recht im Mittelalter. Die Savignysche Argumentation hinsichtlich der Urfaktoren für die Etablierung von Rechtsschulen ist jedoch von partieller Natur.
Unabhängig vom konkreten Personalkarussell der Bologneser zur Abstellung der Rechtsberater für den Imperator Friedrich Barbarossa auf dem Hoftag zu Roncaglia 1158 und abseits jeglicher Gründungsakte oder Vorgeplänkels, die Authentica habita war als Schutzprivileg für die Etablierung der Bologneser Rechtsschule kausal, da den Scholaren das Verfolgungsrecht nicht mehr anhaftete und somit administrativ die Genossenschaften Rechtskörper darstellten.
Odofreds „racconto fantasioso“ hinsichtlich der Bologneser Rechtsschule und zu deren Anfängen kann nicht per se missbilligt werden. Alleine die Traditionslinie über die Lectura in Codicem weist ihn als Rechtsgelehrten aus. Dessen Präferierung für das Dreistufenmodell zur Auffindung der libri legales verlangt aber nach Alternativen.
Der englische Theologe und Jurist Radulfus Niger ist nicht nur hinsichtlich des älteren Beleges für den Erkenntnisgewinn zur Frühphase der Bologneser Rechtsschule eine wichtige Quelle, sondern auch methodisch in seiner Selbstgeißelung ein indirekter Qualitätsschub für die Verifizierung von Quellenmaterialien. Und der Magister Pepo bildet damit in der De re militari ein Äquivalent für den Irneriusmythos.
Quellen und Literatur
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[1] Vgl. hierzu v. Savigny, Friedrich Karl, Geschichte des Römischen Rechts im Mittelalter, Band III, Heidelberg 1834-1851, S. 154f.
[2] Vgl. hierzu Rashdall, Hastings, The universities of Europe in the middle ages, Volume I, Salerno – Bologna – Paris, Oxford 1895, S. 105.
[3] Vgl. hierzu von Krosigk, Esther (Hrsg.), Ritter von Schulte, Johann Friedrich, Lehrbuch der deutschen Reichs- und Rechtsgeschichte, Saarbrücken 2007, S.81; Radding, Charles/Ciaralli, Antonio (Hrsg.), The Corpus Iuris civilis in the middle ages, Manuscripts and Transmission from the Sixth Century tot he Juristic Revival, Leiden/Boston 2007, S. 120.
[4] Vgl. hierzu Denifle, Heinrich, Die Entstehung der Universitäten des Mittelalters bis 1400, Graz 1956, S. 47.
[5] Ein Magister Gratianus lehrte Kanonisches Recht um die Mitte des 12. Jahrhunderts in der Rechtsschule Bologna. Dieser Gelehrte verfasste in der scholastischen Methode das Werk Concordia Discordantium Canonum, das als Decretum Gratiani in die standardisierte Bibliographie zum Kirchenrecht eingegangen ist.
[6] Im lex cittationum von 426 wurden die Gerichte angewiesen, die Rechtsmeinungen der fünf Juristen Gaius, Papinian, Ulpian, Iulius Paulus und Modestinus als verbindliche Grundlage der Rechtssprechung zu nutzen. Dieses Edikt wurde 438 vom oströmischen Kaiser Theodosius II. in den Codex Theodosianus eingefügt.
[7] Vgl. hierzu Denifle, Heinrich, a. a. O., S. 49.
[8] Es ist anzunehmen, dass Bologneser Rechtsgelehrte zu den Ratgebern Barbarossas gehörten. Vgl. hierzu Rashdall, Hastings, a. a. O., S. 259.
[9] Vgl. hierzu Denifle, Heinrich, a. a. O., S. 60.
[10] Vgl. hierzu Denifle, Heinrich, a. a. O., S. 61.
[11] Die taxatores waren ein vom Stadtrat und Universitätsmitgliedern bestelltes Gremium zur Übernahme von Verwaltungsaufgaben und zur Pflege von Außenbeziehungen.
[12] Vgl. hierzu Gieyssztor, Aleksander, Organisation und Ausstattung, in: Rüegg, Walter (Hrsg.), Geschichte der Universität in Europa, Band I Mittelalter, München 1993, S. 128.
[13] Vgl. hierzu Kiene, Michael, Der Palazzo della Sapienza, Zur italienischen Universitätsarchitektur des 15. und 16. Jahrhunderts, Römisches Jahrbuch für Kunstgeschichte 23/24 1988, S. 219-271.
[14] Vgl. hierzu Wattenbach, Wilhelm, Das Schriftwesen im Mittelalter, Graz 1958, S. 185.
[15] Vgl. hierzu Thorndike, Lynn, University records and life in the Middle Ages, New York 1975, S. 166.
[16] Vgl. hierzu Siems, Harald, Adsimilare Die Analogie als Wegbereiterin zur mittelalterlichen Rechtswissenschaft, in: Herbers, Klaus (Hrsg.), Europa an der Wende vom 11. Zum 12. Jahrhundert, Stuttgart 2001, S. 143.
[17] Vgl. hierzu Fried, Johannes, Die Rezeption Bologneser Wissenschaft in Deutschland während des 12. Jahrhunderts, Viator 21 1990, S. 103-145.
[18] Vgl. hierzu Lange, Hermann, Römisches Recht im Mittelalter, Band I Die Glossatoren, Berlin 1997, S. 71.
[19] Vgl. hierzu Wieacker, Franz, Privatrechtgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, Göttingen 1967, S. 45.
[21] Vgl. hierzu Meder, Stephan, Rechtsgeschichte, Köln/Weimar/Wien 2017, S. 197.
[22] Vgl. hierzu Sohm, Rudolph, Institutionen, Ein Lehrbuch der Geschichte und des Systems des römischen Privatrechts, Berlin 1919, S. 133.
[23] Vgl. hierzu Holder-Egger, Oswald, v. Simon, Bernhard (Hsg.), Die Chronik des Propstes Burchard von Ursberg, Hannover und Leipzig 1916, S. 15.
[24] Vgl. hierzu Fried, Johannes, Die Entstehung des Juristenstandes im 12. Jahrhundert, Zur sozialen Stellung und politischen Bedeutung gelehrter Juristen in Bologna und Modena, Forschungen zur Neueren Privatrechtsgeschichte 21, 1974, S. 113.
[25] Vgl. hierzu Fried, Johannes, …“auf Bitten der Gräfin Mathilde“. Werner von Bologna und Irnerius, in: Herbers, Klaus (Hrsg.), a. a. O., S. 173.
[26] Vgl. hierzu Fried, Johannes, …“auf Bitten der Gräfin Mathilde“. Werner von Bologna und Irnerius, in: Herbers, Klaus (Hrsg.), a. a. O., S. 175.
[27] Vgl. hierzu v. Savigny, Friedrich Karl, a. a. O., S. 426.
[28] Vgl. hierzu Kantorowicz, Hermann, Über die Entstehung der Digestenvulgata, Ergänzungen zu Mommsen, Berlin 1910, S. 111f. und derselbe, Studies in the Glossators of the Roman Law. Newly Discovered Writings of the Twelfth Century, Cambridge 1938, S. 33. Hier geht er ganz in Tradition zur klassischen Bologneser Frühgeschichte: ´Irnerius was undoubtedly the man, who, at the dawn of the eleventh century, founded the school of Bologna.´
[29] Vgl. hierzu Fried, Johannes, …“auf Bitten der Gräfin Mathilde“, a. a. O., S. 177.
[30] Vgl. hierzu Pace, Giacomo, ´Iterum homines querebant de legibus´, Una nota sulla riemersione di ´Digesta´, nel Medioevo, Rivista internazionale di diritto comune 3, Messina 1992, S. 223.
[31] Vgl. hierzu Fried, Johannes, …“auf Bitten der Gräfin Mathilde“, a. a. O., S. 179.
[32] Vgl. hierzu Meder, Stephan, a. a. O., S. 215 und Harke, Jan Dirk, Römisches Recht, Von der klassischen Zeit bis zu den modernen Kodifikationen, München 2008, S. 23.
[33] Vgl. hierzu Rashdall, Hastings, a. a. O., S. 98.
[34] Vgl. hierzu Jakobs, Horst Heinrich, Die große Zeit der Glossatoren, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 116, 1999, S. 222-258 und Lange, Hermann, a. a. O. S. 61.
[35] Vgl. hierzu Schmugge, Ludwig, „Codicis Iustiniani et Institutionum baiulus“ – Eine neue Quelle zu Magister Pepo von Bologna -, in: Ius commune Band 6, 1977, S. 1f.
[36] Vgl. hierzu Grundmann, Herbert, Vom Ursprung der Universität im Mittelalter, Berlin 1960, S. 40f.
[37] Vgl. hierzu Schmugge, Ludwig, Radulfus Niger, De re militari et triplici via peregrinationis Ierosolomitane (1187/88), New York 1977, S. 95.
[38] Vgl. hierzu Schmugge, Ludwig, „Codicis Iustiniani…“, a. a. O., S. 2.
[39] Vgl. hierzu Schmugge, Ludwig, „Codicis Iustiniani…“, a. a. O., S. 3.
[40] Vgl. hierzu Smalley, B, The Becket Conflict and the Schools, Oxford 1973, S. 128f.
Abbildungskatalog:
Abb. 1:
https://www.getyourguide.ch/bologna-l1431/bologna-thema-tour-die-aelteste-universitaet-in-europa-t72690/, zuletzt abgerufen am 21.09.2018.
Abb. 2:
https://de.parisinfo.com/museen-sehenswurdigkeiten-paris/71419/La-Sorbonne-Universite, zuletzt abgerufen am 21.09.2018.
Abb. 3:
http://deacademic.com/dic.nsf/dewiki/2230497, zuletzt abgerufen am 19.09.2018.
Die Anfänge der deutschen Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg –
Von Ambitionen und ungenutzten Potenzialen in der psychologischen Kriegsführung
Der Prolog
„Lord Northcliff hatte nicht unrecht, wenn er behauptete, die Rede eines englischen Staatsmannes sei für England 20000 Pfund wert, 50000 Pfund, wenn die Deutschen sie nachdruckten und 100000 Pfund, wenn sie nicht darauf antworteten“, hieß es in den Memoiren des deutschen Generals Erich Ludendorff 1919.[1] Der Mitinitiator der Dolchstoßlegende zweifelte in der Rückschau nicht an der Wirkung einer psychologischen Kriegsführung, als er zustimmend die Ansichten des britischen Verlegers Alfred Charles William Harmsworth, 1. Viscount Northcliffe wiedergab. War es die Beantwortung der Einstiegsfrage? Oder kaschierte der Protagonist der Obersten Heeresleitung das Versagen an der deutschen Propagandafront? Oder konnten etwa die Deutschen wenig Plakatives generieren, verursacht durch ihre aktive Kriegsführung in den ersten Kriegswochen unter Nichtbeachtung der belgischen Souveränität? Zunächst will die Ausarbeitung Stellung nehmen zur Propaganda in den Ludendorffschen Memoiren, indem die Vorlaufzeitaktivitäten der Deutschen in Bezug gesetzt werden zu dem larmoyanten Resümee des einstigen Generalquartiermeisters. Und warum zeichneten sich die Engländer anfangs durch eine gewisse Passivität aus? In der Rückschau muss konstatiert werden, dass die Horrormärchen auf den antideutschen Foren im Ausland bezüglich der deutschen Besatzung in Belgien Mirabilien auslösten wie offizielle Berichte, Untersuchungen oder Kommissionen für das „„poor little Belgium“. Und wo steckte bei den Deutschen eigentlich die Krux für eine tragfähige Propaganda? Diese Fragen werden einer Antwort zugeführt. Oder zumindest werden handelnde Personen aufgelistet in ihrem Meinungsbild, um Rückschlüsse ziehen zu können.
Ein Veto gegen Ludendorff!
Die Anfänge der deutschen Propaganda liegen weder in den Schützengräben an der Westfront noch entsprangen sie als Menetekel aus den Kraterlandschaften um Verdun, an der Somme oder in Flandern. Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts betrieb das Nachrichtenbureau der Reichsmarine unter Heinrich Löhlein eine charmante Offensive hinsichtlich der aggressiven kaiserlichen Flottenpolitik. Nur in der Rückschau wurde die propagandistische Kompetenz dieser wilhelminischen Marineoktroyierung deutlich, da die offensichtlichen Torpedierungen des Two-Power-Standard und die nachweisliche strategische Unterlegenheit auf hoher See bei Kriegsszenarien über die teutonischen Bürgerschichten hinweg wenig Widerhall fanden. Die Löhlein-Truppe war so auch zu Beginn des Ersten Weltkrieges – und hier gibt es ein Veto an das larmoyante Resümee des Erich Ludendorff – selbstverständlich vereinnahmt worden für transnationale Werbeflakfeuereinheiten.[2] Die Deutschen hatten allerdings wesentlich mehr zu bieten als die Löhleinsche Propagandatrommel aus dem Reichsmarineamt. Schon 1912 forderte der bekannte Autor Paul Rohrbach in seiner Teutonenfibel „Der deutsche Gedanke in der Welt“ eine Kulturpropaganda, sozusagen eine Sättigung mit deutschem Gedankengut in den zu der Zeit noch existierenden unerforschten Landstrichen.[3] Zudem existierte seit 1911 auf Betreiben des späteren Mitgliedes der Waffenstillstandskommission Matthias Erzberger ein Fonds zur Verbreitung deutscher Nachrichten im Ausland, aus dessen Finanzierung heraus umtriebige Aktivitäten realisiert werden konnten, seinerzeit nicht ohne Vermerkwürdigkeit bei diplomatischen Vertretern der Entente. Im Sommer 1914 gab der britische Botschafter in Rom, Sir James Rennell Rodd, in einer Mischung aus Konsternation und Huldigung der Zentrale in London zu Protokoll, dass das mit den zahlreichen Flugblättern und Broschüren im neutralen Italien auf eine gute Vorbereitung des Gegners hindeute.[4] Nur allzu gerne versorgten die Deutschen das neutrale Ausland mit Frontberichten und inszenierten Interviews von der Front. Ob dem neutralen Beobachter dabei die mit Argusaugen umgesetzten Zensurbestimmungen vom 31. Juli 1914 bewusst waren, mit denen die Reichsregierung den möglichen Kriegskorrespondenten ein propagandistisches Lagebild zuwerfen wollte, blieb dabei der Einzelfallprüfung verpflichtet. Die Propaganda erhielt die priesterliche Weihe bereits am 2. August 1914, als der ranghöchste kaiserliche Soldat, Helmuth von Moltke der Jüngere, in der Presse ein obligates Mittel der Kriegsführung zu erkennen glaubte.[5] Die frühzeitige Einrichtung von Kriegsberichterstatterquartieren im Sommer 1914 auf deutscher Seite und die Akkreditierung patriotisch gesinnter Kriegskorrespondenten, von denen die ersten Lageberichter Ende August 1914 an die Front abkommandiert wurden, zeigen deutlich das frühzeige Bewusstsein der Deutschen für die plakative und cineastische Wirkung an der Heimatfront. Ergänzt man nun noch diese rührige Propaganda auf der deutschen Seite um den Tatbestand, dass das britische Kriegsministerium erst im Sommer 1915 auf Intervention der Vereinigten Staaten die Frontberichterstattung genehmigte, so können die Aussagen des Herrn Ludendorff hinsichtlich des stiefmütterlich behandelten Propagandasektors zurückgewiesen werden.[6] Auch die im Oktober 1914 initiierte Einrichtung einer Auslandsdienstzentrale im Berliner Außenministerium, deren Führung Matthias Erzberger übernahm, und die die im Ausland tätigen Agenturen in deren Informationsdarstellung bezüglich des Deutschlandbildes bündelte, widersprach der Geschichtsklitterung durch Protagonisten der Ludendorffschen Argumentationsfront. Dieses propagandistische Propädeutikum mit internationaler Ausrichtung war den Engländern durchaus bewusst, da bereits in den ersten Kriegstagen 1914 das Atlantikkabel durch die Briten gekappt wurde. Der Kabelleger Telconia hatte diesfällig nur wenige Stunden nach Ablauf des britischen Ultimatums im August 1914 den Auftrag zur Durchtrennung erhalten.[7] Der den Mittelmächten zur Verfügung stehende Sender Nauen war jedoch kein Äquivalent, obwohl es die bis dato leistungsstärkste Funkstation der Welt war mit Reichweiten nach Persien und Lateinamerika und täglich die neuesten Meldungen vom Kriegsgeschehen brachte. Und verlagstechnisch wurde gleich zu Beginn des Krieges auf deutscher Seite aus allen Druckerpressen geschossen. Es wurden neue Publikationen in Amerika und in China gegründet, das „Hamburger Fremdenblatt“ erschien in mehreren Sprachen und die Gräuelpropaganda nahm sofort Fahrt auf. Da schrieb man, dass Nürnberg von französischen Flugzeugen bombardiert worden wäre[8], oder die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ meldete am 1. Dezember 1914, dass die indischen Sikhs doch gewöhnlich bei Nacht die deutschen Stellungen aufsuchten mit dem erklärten Ziel, den Soldaten die Kehle durchzuschneiden und ihr Blut zu trinken. Den Legendenstatus unter den gräulichen Spukgeschichten nahm dabei die Geschichte vom französischen Priester in Beschlag, der genüsslich eine Kette aus abgetrennten Fingern um den Hals trug. Nicht viel weniger sinister schien das Märchen über die Belgier, die teutonischen Landser in Lazaretten die Augen ausstechen würden.[9]
Der perfide Albion kommt peu à peu
„Die Propaganda war ein altes und gewaltiges Kampfmittel Englands. (…) Dieses war der einzige Staat, der seit langem in klarer Absicht dieses Hilfsmittel der Politik und Kriegführung in wirklich großzügiger Weise in den Dienst seiner nationalen weltumspannenden Politik gestellt hatte“, gab fast apodiktisch Ernst Ludendorff in seinen Kriegserinnerungen wieder.[10] In toto kann dem aber nicht Zustimmung entgegengebracht werden, denn die deutschen Politiker um Matthias Erzberger waren am Vorabend des Ersten Weltkrieges ambitiös(er) auf dem Gebiet der Propaganda. Und hier lag als Motivation nicht mehr nur die kommerzielle Werbemaßnahme als ursprüngliches Reservoir für die Propaganda vor, sondern es formten sich Reaktive auf wie auch immer geartete Staatsfeinde. Britische Politiker häsitierten anfangs ob der propagandistischen Kriegsmaschinerie. Und diese Reserviertheit hatte pragmatische Gründe. Der Burenkrieg (1899-1902) in Afrika war den Kriegsstrategen in London eine Lehre wert gewesen hinsichtlich einer autonom agierenden Presse. Nicht vergessen waren die Falschmeldungen und die Verdächtigungen, die über die britischen Soldaten verbreitet worden waren mit dergestaltigen Ressentiments, dass britische Diplomaten an den führenden Höfen Europas zu Beginn des 20. Jahrhunderts Jeremiaden an die Zentrale in London verschickten und der ausländischen Presse Hetzkampagnen unterstellten. Diese durch die Gazetten grassierenden Improperien waren den soldatischen Eudoxien nicht dienlich gewesen.[11] Zudem trugen die Bediensteten im britischen Kriegsministerium Sorge, dass durch eine Berichterstattung laizzes faire kriegswichtige Informationen dem Feind ohne Spionageaufwand hätten als fixe Quelle zugeführt werden können. Kriegsminister Lord Herbert Kitchener gab sogar Order, dass jeder im Kriegsgebiet tätige Korrespondent unter Konfiszierung des Passes unverzüglich festgesetzt und zurückgeschickt werden sollte. Oder gar der damalige Erste Lord der Admiralität, der spätere Premierminister Winston Churchill, sah schlichtweg keinen Platz für Korrespondenten auf Kriegsschiffen.[12] Diese doktrinäre Zurückhaltung wäre aber auf Dauer ein Verzicht auf die Auslastung der Ressourcen zur Festigung einer antideutschen Stimmung in der Öffentlichkeit gewesen. Ohnehin mussten die Briten Paroli bieten, da die deutsche Propagandaflut gerade auf dem Hoheitsgebiet der Vereinigten Staaten inkonvenient öffentlichkeitswirksam war. Wohlwissend von der Kraft dieser Propagandapamphlete forderte der damalige Finanzminister David Lloyd George bereits im Sommer 1914 Gegenmaßnahmen, um sich der deutschen Falschmeldungsfront zu stellen.[13] Im Spätsommer 1914 erfolgte dann auf Anweisung des englischen Premierministers Herbert Asquith die Grundsteinlegung einer Auslandspropagandaorganisation im Außenministerium. Es war die Geburtsstunde des War Propaganda Bureau mit Sitz nahe dem Buckingham Gate in London unter Leitung von Charles Mastermann. Mastermann, politischer Weggefährte des Premierministers, lehnte jedoch jegliche Attitüde ab, die im Einklang mit der deutschen Propagandakultur stand. Hier zeigte sich bereits zu Beginn der administrativen Bemühungen um eine nachhaltige Propaganda die feingeistige, subtile Art der Briten in der psychologischen Kriegsführung. Mastermann sah in der deutschen Propagandakultur eine plumpe, mit Broschüren überladene Meinungsoktroyierung mit wenig Charmepotenzial. Und in der Tat, die durchaus den Deutschen freundlich gesinnten Norweger interpretierten deren Druckerzeugnisse als Dauerbombardement. Und nicht viel weniger ungeschickt gaben sich die Teutonen in der Meinungsbekehrung bei Uncle Sam. Mit Nachdruck appellierte der damalige deutsche Botschafter in Washington, Johann Heinrich von Bernstorff, in den Äther nach Berlin, dass die Amerikaner kein Anreiz für die fremdbestimmte Übernahme von Meinungsbildern hätten, vielmehr forderten sie Tatsachen zur eigenen Meinungsbildung. Mastermann hatte richtig erkannt, dass die wirkungsvollste Propaganda darin lag, die Meinungsbildner in den neutralen Ländern für sich zu gewinnen.[14]
Das Malheur der deutschen Propaganda
Das Wilhelminische Kaiserreich zeichnete sich nicht durch Inaktivität aus oder gar durch limitierte Kompetenzträger im Auslandsdienst. Ab ovo usque ad mala darbte die deutsche Propaganda am Ruf des Angreifers, des Souveränitätsverletzers und Besatzers. Hinzu kamen die völkerrechtswidrigen Vorfälle in Belgien, als bereits in den ersten Kriegstagen tausende belgische Zivilisten auf Veranlassung der zuständigen deutschen Militäradministration erschossen wurden. Die berüchtigte Hunnenrede Wilhelms II. im Vorfeld des Boxeraufstandes hatte offenbar in Kontinentaleuropa einen nachträglichen Spielplatz erhalten. Anlass für die Stigmatisierung, den deutschen Soldaten auf die Ebene des abendländischen Hunnenablegers zu hieven, war die unverhältnismäßige Zerstörung der belgischen Stadt Löwen Ende August 1914. Dieses Fanal sollte langfristig das Bild der Deutschen im Ausland prägen, und die antideutsche Gräuelpropaganda – ob berechtigt oder mit polemischer Übertreibung – konnte nicht mehr adäquat neutralisiert werden von den teutonischen Kriegerpsychologen. Alleine der Bryce-Bericht, der (vermeintliche) Gräueltaten der Deutschen im besetzten Belgien auflistete, hatte im Ausland einen intensivierenden Habitus hinsichtlich des negierenden Deutschlandbildes. Wenn nun noch zusätzlich der mit hoher Reputation ausgestattete ehemalige britische Botschafter Lord James Bryce, Namensgeber des im Frühjahr 1915 veröffentlichten Berichtes, die propagandistische Werbetrommel rührte, war er als Transduktor der barbarischen preußischen Militärkanaille dem psychologischen Zugriff der Deutschen vollends entronnen. Selbst Mastermann, reserviert im Umgang mit dem Bryce-Bericht und offensichtlich in Kenntnis gesetzt zu punktuellen Übertreibungen im Bryce-Bericht[15], konnte sich der britischen Verlegerpresse nicht entziehen, die – namentlich in Northcliffe als Gallionsfigur – das Faible für Sensation oder für das antideutsche Ressentiment schürten. Ein weiterer archimedischer Punkt in der gegnerischen Presse für die Komposition eines negierenden Deutschlandbildes stellte der Fall der Krankenschwester Edith Cavell dar. Die britische Staatsbürgerin wurde im Oktober 1915 erschossen wegen Spionage. Was kam da der britischen Presse besser gelegen als eine aufopferungsvolle Krankenschwester, die verletzten Soldaten Zuflucht gewährte im Hospital? Gazettenkanonaden wie „brutaler Justizmord“ oder „infamste Verbrechen der Geschichte“ erhielt der preußische Militarist eine neuerliche Deklassierung auf der Empathiestufe. Dass das Menetekel des grauröckigen Besatzers eine prinzipielle Wirkungslosigkeit in der nachhaltigen Propaganda generierte, zeigte sich im Spionagefall der Mata Hari, der als juristisches Äquivalent zu Cavell nicht von den Deutschen instrumentalisiert werden konnte. Nicht von minderer Außenwirkung, und nun auch amerikanische Staatsbürger direkt involviert, war der Fall des Charles Fryatt, der im März 1915 ein deutsches U-Boot rammte und wegen dieses Vergehens zum Tode verurteilt wurde. Dieser Fall war in der Außenwirkung so gesetzt, dass britische Artilleristen später ihre Granaten mit „To Capt. Fryatt´s Murderers“ versahen. Der uneingeschränkte U-Bootkrieg führte – auch mit Blick auf Charles Fryatt – zu der wenig possierlichen Titulierung „reißende Wölfe“ in den britischen Gazetten und zum leidlichen Nachklang mit den US-Amerikanern.[16] Ob dem Ausland die bedrückende Fernblockade in ihrer Ausprägung hinsichtlich der Versorgung der Zivilbevölkerung bewusst war, bleibt nur zu vermuten, lag aber in deren fehlender Berücksichtigung zur Akzeptanz des U-Bootkrieges vordergründig beim deutschen Auslandsdienst. Hier war ein militärtaktisches Dilemma zum Vorschein gebracht, da das Eingeständnis der prekären Versorgungslage im Kaiserreich bereits zu Beginn der kriegerischen Auseinandersetzungen nicht offenbart werden konnte. Und somit blieb den Deutschen in der propagandistischen Auslastung nur die Diskretion, um das Wagnis der unnötigen Gegenpropaganda zu neutralisieren. Erst durch den fehlenden Gegenpol konnte sich die antideutsche Propaganda wie ein grassierendes Lauffeuer durch die ausländischen Gazetten wildern nach Sympathisanten und Förderer. Und von denen gab es reichlich genug.
Belgien war die Krux!
In der Nachbetrachtung war gerade das „innocent Belgium“ für die Deutschen die Krux. Der Schlieffen-Plan erhielt politische Brisanz – neben den militärtaktischen Unwegbarkeiten – gerade in der Souveränitätsverletzung des kleinen Landes. Der englische Historiker Reginald Brett, 2. Viscount Esher formulierte es für die Deutschen nachteilig so:
„Die belgische Episode war ein Glücksfall, der sich genau zum richtigen Zeitpunkt ereignete, um unseren Kriegsbeitritt den moralischen Vorwand zu liefern, den es braucht, um die Einheit der Nation sowie die der Regierung sicherzustellen.“[17]
Gerade auf dem nordamerikanischen Kontinent sollte die Werbetrommel für das „poor little Belgium“ genau die materielle Sogwirkung erreichen, die das Deutsche Kaiserreich nicht mehr kompensieren konnte. Bereits ab 1915 gab es in den Vereinigten Staaten von Amerika die „Commission for relief in Belgium“, die werbewirksam für Spenden an die von den maledeiten Teutonen so arg in Bedrängnis gebrachten Belgier eintrat. Die Halbwahrheiten der belgischen Flüchtlinge, die erfundenen Geschichten von Kindern mit abgehackten Händen, deutsche Leichenfabriken zur Produktion von Glycerin oder die Herausgabe eines „Deutschen Verbrecherkalenders“ durch das National War Aim Committee zeigten alleine durch die permanente mediale Präsenz eine unbewusste Übernahme im Denken der Menschen.[18] Diese Berichte wurden auf Vortragsreisen schauspielerisch überzeugend der Zuhörerschaft dargeboten in einer Form, dass selbst besonnene Regierungsmitglieder wie Lloyd Georg aus England oder Francesco Saverio Nitti aus Italien Nachforschungen zur Verifizierung organisierten. Nitti erinnerte sich in seinen Memoiren an die Durchschlagskraft dieser Gräuelberichte:
„Man hat uns von armen belgischen Kindern erzählt, denen die Hunnen die Hände abgehackt hatten. Nach dem Krieg schickte ein reicher Amerikaner, tief unter dem Eindruck der französischen Propaganda, einen Geheimboten nach Belgien mit dem Auftrag, sich um diese Kinder zu kümmern. …] Der Bote konnte jedoch kein einziges dieser Kinder finden. Mr Lloyd George und ich selbst in meiner Eigenschaft als italienischer Regierungschef stellten daraufhin genaue Nachforschungen an, um die Wahrhaftigkeit dieser Berichte zu überprüfen, von denen manche sogar Namen und Orte nannten. Es stellte sich heraus, daß alle von uns untersuchten Fälle erfunden worden waren.“[19]
Obwohl im vorgenannten Zitat die französische Presse genannt wird, ist doch Lloyd George ein Protagonist der Wahrheitsfindung. In der englischen Presse zeigte sich für die Deutschen das Potenzial einer nicht staatlich reglementierten Korrespondenz. Sie war nicht die „Magd der amtlichen Propaganda“[20], und realiter wurden die angeblichen deutschen Gräueltaten mit einer beachtlichen Portion Eigendynamik versehen unter Ausnutzung kriegstaktischer Dilemmata. Amtliche Stellen waren reserviert ob der Wahrheitsfindung oder Richtigstellung, so dass das Bild der Deutschen peu à peu an der Tragweite der freien britischen Presse demon
[1] Vgl. hierzu Ludendorff, Erich, Meine Kriegserinnerungen 1914-1918, Berlin 1919, S. 303. Das wortwörtlich Zitierte wurde am 17. April 2018 unter dem Hyperlink https://archive.org/details/Ludendorff-Erich-Meine-Kriegserinnerungen aus der digitalen Version der Kriegserinnerungen entnommen.
[2] Vgl. hierzu Deist, Wilhelm, Flottenpolitik und Propaganda, Das Nachrichtenbureau des Reichsmarineamtes 1897-1914, Stuttgart 1976, S. 321ff.
[3] Vgl. hierzu Rohrbach, Paul, Der deutsche Gedanke in der Welt, Düsseldorf und Leipzig 1912, S. 206.
[4] Vgl. hierzu Sir James Rennell Rodd, Social and Diplomatic Memories, in: Sanders, Michael & Philipp M. Taylor, Britische Propaganda im Ersten Weltkrieg 1914-1918, Berlin 1990, S. 40.
[5] Vgl. hierzu Koszyk, Kurt, Deutsche Pressepolitik im Ersten Weltkrieg, Düsseldorf 1968, S. 23ff.
[6] Vgl. hierzu Lindner-Wirsching, Almut, Deutsche und französische Kriegsberichterstatter, in Daniel, Ute (Hrsg.): Augenzeugen. Kriegsberichterstatter vom 18. zum 21. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 118.
[7] Vgl. hierzu Sanders & Taylor, Britische Propaganda, a. a. O., S. 25.
[8] Vgl. hierzu Koszyk, Kurt, Entwicklung der Kommunikationskontrolle zwischen 1914-1918, in: v. Fischer, Heinz Dietrich, Pressekonzentration und Zensurpraxis im Ersten Weltkrieg, Berlin 1973, S. 174.
[9] Vgl. hierzu Knightley, Philipp, The First Casualty. The War Correspondent as Hero, Protagonist and Myth-Maker from the Crimea to Iraq, London 2003, S. 87 und S. 113.
[10] Vgl. hierzu Ludendorff, Kriegserinnerungen, a. a. O., S. 289.
[11] Vgl. hierzu Sanders & Taylor, Britische Propaganda, a. a. O., S. 17.
[12] Vgl. hierzu Knightley, First Casualty, a. a. O., S. 91.
[13] Vgl. hierzu Sanders & Taylor, Britische Propaganda, a. a. O., S. 40.
[14] Vgl. hierzu Sanders & Taylor, Britische Propaganda, a. a. O., S. 88f und Wilke, Jürgen, Deutsche Auslandspropaganda im Ersten Weltkrieg: Die Zentralstelle für Auslandsdienst, in: Ders. (Hrsg.), Pressepolitik und Propaganda. Historische Studien vom Vormärz bis zum Kalten Krieg, Köln/Weimar/Wien 1997, S. 125.
[15] Vgl. hierzu Sanders & Taylor, Britische Propaganda, a. a. O., S. 120.
[16] Vgl. hierzu Schramm, Martin, Das Deutschlandbild in der britischen Presse 1912-1919, Berlin 2007, S. 391ff.
[17] Zitiert nach Morelli, Anne, Die Prinzipien der Kriegspropaganda, Springe 2014, S. 30.
[18] Vgl. hierzu Bremm, Klaus-Jürgen, „Staatszeitung“ und „Leichenfabrik“, in: Österreichische Militärische Zeitschrift XLVI. Jahrgang, Heft 1 2008, S. 14f. und Morelli, Die Prinzipien der Kriegspropaganda, a. a. O., S. 30.
[19] Zitiert nach Morelli, Die Prinzipien der Kriegspropaganda, a. a. O., S. 30.
[20] Vgl. hierzu Sanders & Taylor, Britische Propaganda, a. a. O., S. 35.
Obwohl das mittelalterliche Reisekönigtum keine den heutigen Vorstellungen entsprechende ortsfeste Administration vorweisen konnte, war die Pfalz in Aachen der Anlaufpunkt für späterer Imperatoren aus dem ostfränkisch-deutschen Königreich. Im Aachener Marienstift sahen die ambitionierten Kandidaten für den teutonischen Rextitel die Wallfahrtsstätte, in Symbolik und Baustil. Das vom Stiftskapitel protegierte Kollegialstift nannte eine Kapelle ihr Eigen, die einen oktogonalen Grundriss besaß, das Zentrum des späteren Aaachener Doms. 30 römisch-deutsche Könige wurden bis in das 16. Jahrhundert hinein in Aachen gekrönt, die sich in der Rechtsnachfolge Karls des Großen sahen. Und diese Longivität in der deutschen Krönungsgeschichte schlug sich in der mediävalen Baugeschichte nieder und hinterließ nicht nur archäologische Überreste, die in der Literatur durch eine marginale Fußnotentechnik dekoriert werden. Und dabei gaben die vorliegenden Schriftquellen erst verspätet Aachen preis mit der Erstnennung in den Reichsannalen 765, als der Frankenkönig Pippin der Jüngere, Vater Karls des Großen, dort das Weihnachtsfest feierte. Nur wenig später erscheint in den Quellen namentlich Carolus magnus Rex, der den Status quo der Beherbergungsanlage stetig Modifikationen unterwarf. Die überregionale fränkische Administration und die starke Präferenz zur Christianisierung sächsischer Gebiete generierte die Pfalzanlage Aachen – auch in deren Verortung – zum archimedischen Punkt eines christlichen Sendungsbewusstseins. Die administrative Schaltzentrale für die karolingische Renaissance war statuiert, und die karolingische Minuskel sollte dabei nicht als kulturelle Einöde in der Produktpalette verweilen. Kein architektonischer Fachbeitrag zur Baukunst des Mittelalters abandonniert auf die Aachener Pfalz, zumindest keine Äußerung mit Anspruch auf Reputation. Die Stiftskirche Unserer Lieben Frau in Aachen gehört zum Inventar deutscher Bauvererbung. Die Grabeskirche Karls des Großen und der Krönungsort für Könige von den Ottonen bis zu den Habsburgern verlangte nach einer quellentechnischen Saturierung. Offensichtlich schien der Namensgeber des heutigen Karlspreises nicht auf Sand gebaut zu haben, was auch der symbolischen Relevanz der Aachener Marienkirche für das abendländisch-christliche Europa diametral entsprechen würde. Hier liegt der Ursprung für die Pflege und Dokumentation des baulichen Erbes.
Das eigentliche Problem für ein zentrales Arsenal und Aufbereitung der Daten zum Aachener Pfalzkomplex liegen jedoch im Konglomerat aus architektonisch-bauhistorischen Studien, esoterischen Abhandlungen über Kraftlinien oder heiligen Quellen, von Verweisen auf den byzantinischen Baustil und die jahrzehntealten Debatten um die Roma-secunda-Diskurse. Der Historiker Ludwig Falkenstein triff die fragmentarische und permanente Stetigkeit des Bemühens um eine fachübergreifende Zeichnung des Aachener Gesamtbildes treffend mit seinem für den Fachkollegen ambivalenten Charakterzug:
„Bei der Erforschung der Aachener Pfalz hat es deutlich an nüchterner Einsicht gefehlt, zwischen dem zu scheiden, was sich als sicher, als wahrscheinlich, als möglich oder auch als unsicher, als unwahrscheinlich und als unmöglich erweisen läßt.“[1]
Der Aktualisierungsstatus dieser Aussage kam nie in die Verjährung. Die Komplexität und interdisziplinäre Verzahnung streben in die Sphären eines enzyklopädischen Kompendiums. Die didaktische Reduzierung ist zwingend, um nicht durch die Irrwege der Unübersichtlichkeit die Motivation und Zielgerichtetheit in den Versandungsprozess zu katapultieren. Die Ausarbeitung will sich nicht mit Kalamitäten messen, die nicht zu bewerkstelligen sind. Und daher wird die Akzentuierung und didaktische Reduzierung sich mit dem Granusturm und der Königshalle beschäftigen, auf die ersten Ausgrabungsphasen in der Neuzeit auf der Suche nach dem Karlsgrab eingehen und die Taufkapelle als Element aus der Domumgebung thematisieren, wohlwissend um die Akzentuierung zum Preis einer thematischen Ausdünnung zum Aachener Pfalzkomplex. Gerade der Granusturm mit seinem auf dem ersten Blick wenig rationalen Treppenwechsel und die Spekulationsblase um die abgetragene Königshalle sind vorzügliche Repräsentanten eines nicht detailliert aufzeigbaren Pfalzareals. Fragmentarische Rekonstruktionen sind daher ein Apodiktum, und der Deus ex machina wird zunehmend zur Hagiologie. Deskriptionen ergänzen die Ausführungen für mehr Plastizität. Alle vorangestellten Sachgebiete verdeutlichen zudem die Komplexität, die Neigung zu Gegenmodellen und den Nährboden für Mythenbildungen, die es bis heute durchgängig gibt für die Kaiserpfalz Aachen. Daher soll in einem Abriss über die ersten professionalisierten Ausgrabungen hinsichtlich der Suche nach dem Karlsgrab im 19. Jahrhundert und über die Taufkapelle als exemplarischen Baustein zur Formung von Gegenmodellen das Konglomerat an Fachmeinungen, Zeitzeugen und deren Motivwahl und Auswirkung auf die Nachwelt die Quadratur des Kreises bezüglich eines ganzheitlichen Kompendiums zum Aachener Pfalzareal demonstriert werden.
2. Mit den Überresten im Ungewissen perpetuieren
Sine dubio und abseits unsäglicher Diskurse, die imposanten Steinbauten auf dem Aachener Pfalzareal gehören zu den am besten erhaltenen Überresten aus der Karolingerzeit. Das Maleur der Rekonstruktionsgenese besteht in der Diskrepanz von schriftlicher Erwähnung und der Zuordnung baulicher Überreste. So steht das heutige Aachener Rathaus auf den Grundmauern der Regierungshalle Karls des Großen. Zudem erfolgt eine urkundliche Erwähnung von Pfalzbauten, die noch nicht dem Überrestekonglomerat der archäologischen Ausgrabungen zugeordnet werden können.
Die unter Karl dem Großen errichtete Stifts- und Pfarrkirche veränderte ihre karolingische Genetik trotz zahlreicher Anbauten nie. Und mit dem Granusturm besitzt das Aachener Rathaus einen gut erhaltenen Profanbau aus der Karolingerzeit. Der zeitgeschichtlichen Forschung entsprechend, der Granusturm verfügt über eine komplexe Innenausstattung. Die Innenraumarchitektur ist charakterisiert durch die tonnengewölbten Treppenaufgänge in den unteren Geschossen, die in das Gesamtbild der quadratischen, von monastischen Gewölben überspannte Innenräume integriert sind. Unterschiedliche Geschosshöhen und unregelmäßig verlaufende Treppenspiralen nähren den Verdacht der generationenübergreifenden Bauaktivitäten einzelner Gebäudetrakte unter Einbringung jeweiliger Bauherrenfaible. Nimmt man das Treppenambiente als Maßstab für die Funktionalisierung, steht dem Ruf nach einem der ersten repräsentativen Treppenhäuser im Frankenreich nördlich der Alpen nichts entgegen. Das unbelastende Steigungsmaß, die sympathische Treppenbreite und die adäquate Belichtung gehen über das Maß alltagspraktikabler Zugangsbauten hinaus. Thomas Kraus formulierte – aus diesem Blick treffend und um byzantinisches Bauerbe ergänzt – treffend:
„In seiner Struktur ähnelt er repräsentativen byzantinischen Treppenhäusern, einem Bautyp, der im Mittelalter zugunsten der Freitreppe wieder aufgegeben wurde.“[2]
Offensichtlich liegt im Granusturm der Wille vor, den römischen Monumentalbau in architektonischen Einklang mit der germanischen Bautradition zu bringen. In Abkehr eines einheitsräumlichen furor principum wurden die Raumabschnitte horizontal und vertikal getrennt und erhielten unterschiedliche Funktionen. So ist denn auch zu erklären dass der Granusturm – eben nicht wie der italienische Campanile – in einzelne Turmabschnitte gegliedert ist mit Wechseln in der Drehrichtung der Treppen. Dahingehend kann der Granusturm in seiner Funktionalität interpretiert werden als vertikale Schleusenkammer, um die unterschiedlichen Geschosse der benachbarten Gebäudetrakte zu verbinden. Da die rudimentären Aulareste aber keine gesicherten zulassen, kann die eigentliche Zielrichtung des Treppenaufgangs nicht identifiziert werden. Das ist die Allüre in der Rekonstruktion der Kaiserpfalz.
Das Inventar der baulichen Überreste verdeutlicht trotzdem die Einzigartigkeit der Pfalz in Ausmaß und Form. Nehmen wir die Königshalle , also den Gebäudetrakt, in dem vermutlich der Karolinger Karl der Große samt Entourage verweilte. Nicht selten wird die Königshalle mit dem heutigen Aachener Rathaus identifiziert. Der Hintergrund liegt in der Existenz älterer Fundamente, die stärker ausgelegt waren als für den gotischen Neubau im 14. Jahrhundert notwendig gewesen wäre. Die schwere Massenbauweise der Romanik spräche dafür. Und die Untersuchungsergebnisse verdeutlichen auf diesem Areal dass die Oberkante des alten Fundaments bis zu mehr als zwei Metern unter der Laufebene der Gotik gelegen haben muss. Eine direkte Konsequenz liegt in der Tatsache, dass nach dieser Fundamentthese der Marktplatz nachträglich zur Höhenangleichung aufgefüllt worden sein. Unabhängig davon, die Funktionalität der Königshalle ist nicht fix, und die nördliche und südliche Apsis sind in der Datierung und Existenz im Diskurs.[3] Ob der an der Ostseite der Regierungshalle befindliche Granusturm als Wohnstätte diente, ist nicht belegt, wohl aber ein zweigeschossiger Verbindungsbau ist dokumentiert, der
zu Marienkirche führte, der Pfalzkirche im Süden des Areals gelegen. Die Nutzung bleibt – wieder einmal – im Dunklen verborgen. Die Pfalzkapelle dagegen bildete das bauliche und funktionale Zentrum des christlichen Hortes. Alleine die Baumaterialbeschaffung war der Symbolkraft des zukünftigen Gemäuers angemessen, als aus Rom und Ravenna Marmor und Säulen nach Aachen transportiert wurden zwecks Weiterverarbeitung.[4] Und wie sah es eigentlich in der Spätantike oder in der merowingischen Ära aus? Darüber kann nur spekulativ informiert werden, da die spätantiken Siedlungsspuren nur rudimentär vorliegen, um sie in belastbare Rekonstruktionen zu überführen.
Der digitalisierte Phasenplan für Aachen als ikonisches Element der Siedlungskontinuität kann genutzt werden, um die Pfalzarchitektur zu generieren.[5] Dass das mit den roten Arealen überschaubar bleibt, ist den rudimentären Überresten aus der spätantik-frühmittelalterlichen Zeit geschuldet. Die orangefarbene Bauphase, den frühen Karolingern zuzuordnen, beinhaltet ein Altargebäude. Und Areale wurden genutzt aus der roten Bauphase für Abbruchmaterial, aus dem neue Fundamente entstanden oder Teile derselben dienten als Schmelztiegel für spätantike-frühkarolingische Mischstrukturen. Carolus magnus rex initiierte den Bau der Marienkirche, den Südannex und den Granusturm (gelbe Partitionen). Die Dendrochronologie erlaubt die Vermutung, dass über den Tod des Kaiser 814 hinaus die Tätigkeit nicht abgeschlossen waren. Warum außerhalb der Marienkirche keine signifikanten karolingerzeitlichen Baudekore über die archäologischen Ausgraben zu attestieren sind, bleibt in letzter Instanz nicht geklärt. Fehlende, verlustige oder verkannte Funde mögen ein Erklärungsmodell sein, können aber in toto kein nennenswertes Gegengewicht zur Diskrepanz anbieten. Über das Jahr 814 hinaus kam es (hellgrüne Partition) zu Veränderungen am Atrium, ergänzt um einen Rechteckbau, der im Verbindungsgang von Marienkirche und Wohnstätte Karls des Großen integriert wurde.[6] Weder Prototyp noch Kopie waren dieser Pfalz zu eigen, sondern eine Entartung des Standardisierten. Lediglich Ingelheim und Nijmwegen konnten – so man den Einhardschen Aussagen Glauben schenken darf – der Strahlkraft Aachens mit vergleichbarem Paroli bieten. Wie heißt es doch in der Vita Karoli Magni an der entsprechenden Stelle:
„Inchoavit et palatia operis egregii, unum haud longe a Mogontiaco civitate, iuxta villam cuius vocabulum est Engilenheim, alterum Noviomagi super Vahalem fluvium, qui Batavorum insulam a parte meridian praeterfluit.“[7]
Die Erforschung dieser Pfalz ging symbiotisch mit deren Bedeutung für die abendländische Christenheit einher. Es gehört zu den Eigenarten der historischen Wissenschaften, dass – obgleich en masse Maßnahmen und Forschungsbeiträge vorliegen – das Gesamtbild für die Aachener Pfalz weder präzise noch vollständig ist. Mit dogmatischem Pathos kann lediglich formuliert werden, dass sich die Pfalz nach heutigem Kenntnisstand aus der Marienkirche mit Atrium und Annexen im Süden formt, ergänzt um eine Königshalle im Norden und einem Weg, der von einem nicht unerheblich fundamentierten, turmartigen Gebilde durchschnitten wird. Der Pfalzabschluss nach Nordosten ist in toto ungesichert, im Osten und Südosten können die Kaiserquelle am Büchel und in karolingischer Zeit noch genutzte Reste römischer Architekturen sowie die dort verlaufende Ursulinerstraße als Fixpunkte charakterisiert werden.
Der latente Verwahrlosungscharakter der archäologischen Betreuung der Randareale um die Aachener Marienkirche herum kam auch dadurch zum Vorschein, dass großflächige Substanzverluste in den Büchelthermen hingenommen werden mussten bei Bauarbeiten 2001, und 2005 eine Leitungstrasse an der Westseite des Katschhofes genehmigt wurde, die in ihrem Verlauf die Fundamente eines karolingischen Querbaus mehrfach durchschlug.[8] Auch lässt sich für die Vergangenheit selten ein interdisziplinäres Miteinander konstatieren, sondern eine Verselbständigung von Diskursen innerhalb der Einzeldisziplinen. Widersprüchliche Befundansprachen und Befunddeutungen nötigten schon den bereits erwähnten Ludwig Falkenstein 1970 zu der Erkenntnis, ein stärker abgestimmtes Arbeiten zu organisieren. An Material herrscht kein Mangel, obgleich in der Genese der Kleinfundkategorisierungen Dark Ages auftauchen, wie geschehen mit den Kleinfunden in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts wegen der Kriegswirren. 2010 konnte der Aachener Stadtarchäologe Andreas Schaub das nicht revolutionäre Fazit ziehen, dass Karl der Große sicherlich in Aachen bestattet wurde. Nun gut, aber diese Erkenntnis ist a priori postuliert in der Aachener Pfalzforschung. Die damalige Ausgrabungsaktion vor Ort brachte nicht das Grab zum Vorschein. Wieder einmal! Und wieder einmal keine Sensation. Bereits der Ottone Otto III. und der Staufer Barbarossa hatten ihre liebe Mühe, die Gebeine des Frankenkaisers zu finden, die heute im kostbaren Karlsschrein liegen. Überspitzt formuliert würden die Archäologen nach einem jahrhundertealten Loch suchen, das mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit über die Zeiten hinweg Auffüllungen erhielt, wenn nicht sogar schon am Tage der Entnahme der Gebeine. Ursprünglich wollte der Kaiser in der Nähe von Paris bestattet werden, aber schon wenige Stunden nach seinem Tod war er hoc loco bestattet worden. Ob die Aachener Hofschranzen vollendete Tatsachen schaffen wollte oder das anonymisierte Grab als Schutzvorrichtung gegen die Normannen diente, bleibt nach aktueller Quellenlage unbeantwortet.[9]
3. Ab ovo … Frühe Archäologie mit Charlemagne
Oder besser: Karolus magnus ubi est? Die französischen Revolutionswirren hatten Aachen ab 1794 in den französischen Hegemonialbereich gehievt, und Aachen wurde ab 1798 administrativer Sitz des Départements de la Roer. Dass das mit der unbefleckten Mandorla hinsichtlich der Weihestätte für römisch-deutsche Könige in der Frühen Neuzeit nicht passte, lag in der fehlenden Bewusstseinskultur für das Geschichtserbliche begründet. Offenbar die Gunst der Stunde nutzend, versuchten sich neuzeitliche Grabräuber noch vor dem Eintreffen der französischen Besatzungsmacht im Aachener Münster in der Schatzsuche. In der Mitte des Oktogons hausierte offensichtlich eine Grabräuberkompanie, wie ein anonymer Zuträger 1796 der kurkölnischen Regierung offenbarte:
„Das Münster in Aachen sieht spektakulos aus. Das Blei ist vom Hauptturm abgerissen, hier und da hängt noch ein Brett, welches jeden Augenblick herabzufallen droht. In der Kirche sind die porphyren Säulen und die Orgel weggerissen, und unter der in der Mitte hangenden Krone, worunter das Grabmal Karls d. Gr. Gewesen sein soll, ist ein tiefes Loch gegraben, wahrscheinlich um Schätze zu suchen, welches aber itzt nur eben mit Grund zugeworfen ist. Hieran wird auch itzt nichts gemacht, weil sie [d. h. die Stiftsherren] ihre Bestimmung noch nicht wissen.“[10]
Dieser Bericht geht in die fachmännische Investigation und zeigt – zumindest für den Auftraggeber [Anmerkung: vermutlich die Kurkölner] ein empathisches Bewusstsein für baukulturelles Erbe. Nun unter der administrativen Regie des Départements, 1803 erfolgte eine amtlich bestellte Untersuchung des ersten Aachener Bischofs Marc Antoine Berdolet. Charlemagne war eben auch der Urvater der Franzosen. Und Napoleon dürfte nach menschlichem Ermessen kein Problem mit diesem Karolinger gehabt haben. Aus der Selbstlegitimation heraus und mit Rückgriff auf geschichtliche Instanzen kann die Rechtsstellung eines Korsen mit dessen Kaisertitulierung ab Dezember 1804 symbolisch und sakral besser verankert werden. Grabungsäußerungen wurden nicht kodifiziert, was der Rezeption des Überlieferten anlastig ist. Was bleibt, ist dem Nebulösen zu folgen, der Wahrheit Verdecktes herauszufiltern. Und die Preußen, in deren Hoheitssgebiet nun Aachen nach dem Wiener Kongress 1814/1815 lag, hatten in der Grabungsdokumentation kein ausgeprägtes Verdunklungsmotiv. Als nämlich 1843 erneut Grabungen in der Münsterkirche durchgeführt werden sollten, genehmigten sich die preußische Administration und die Klerikalen den Altertumswissenschaftler Cornelius Peter Bock, der im Vorfeld eine Inventur des Sachstandes durchführte. Aus dieser Stoffsammlung ergab sich, dass der Aachener Heimatforscher Christian Quix seinerzeit Zeugen der Berdoletschen Grabung befragte und deren kodifizierte Aussagen habe einsehen können. Zu den archäologischen Handwerkskünsten von 1803 durfte man folgendes nachlesen:
„Als alles weggeräumt war, fand sich ein Paviment von italiänischem Marmor. Ungefähr zwei Fuß tiefer fand sich ein anderes Paviment von ordinären, schweren Steinen. Nachdem auch dieses weggeräumt war, stieß man auf einen Brunnen, gerade in der Mitte, wo der Altar gestanden hatte. Wir ließen ein Seil, woran ein Stein befestigt war, hinunter, kamen aber nicht auf den Grund. Doch erkannten wir, daß der Brunnen Wasser enthielt.“[11]
Cornelius Peter Bock wollte in der Interpretation des Gelesenen erkannt haben, dass das Grab Karls des Großen vor dem Hochaltar hätte nicht liegen können, da kein Fund verzeichnet war [Anmerkung: Die erwähnte Grabungstiefe konkludiert diese Hypothese des Altertumswissenschaftlers], und der Marmorboden hatte offenbar auch keine karolingische Provenience, da außerhalb gelegen. Wenig später in den Akten kommt ein Baumeister Simar zu Worte [Anmerkung: Simar war auch Gesprächspartner von Bock], dessen Fußtiefenangabe verunsichert, da nach seinen Angaben weiße und rote Marmorplatten in etwa sechs Fuß Tiefe gesichtet worden wären bei den Ausgrabungen, was aber auf die Existenz von römischem Überrestegut hindeuten würde. Bereits in dieser Phase der neuzeitlichen Archäologie zeigt sich der Facettenreichtum möglicher Grabungsinterpretationen. Auch gab Simar 1843 zu Protokoll, dass Bischof Berdolet die Anweisung herausgab, den Grabstein Ottos III. mit der Inschrift „Carolo Magno“ zu versehen und in der Mitte des Oktogons einzulassen. Nach Simar war der Bischof öfters zugegen bei den verwirrenden Umbaumaßnahmen, und der Bischof hätte in Manier der Oktroyierung das Gewölbe Karls des Großen verortet.[12] Können diese Nachrichten über die Grabungen unter französischer Besatzung belastbar verifiziert werden? Zumindest sagen sie aus, die Befunde nicht gut gesehen zu haben, was nicht unbedingt als Indiz gewertet werden kann, dass sie die Maßnahmen unmittelbar verfolgen konnten. Auch verschränken sich in ihren Aussagen Gesehenes und aus der wissenschaftlichen Debatte der Zeit Erschlossenes in einem Maße miteinander, dass die Erinnerung an die Vorgänge von 1803 deutlich überformt wird. Nachdem die Suche nach dem Karlsgrab zur Markierung der angeblichen Gruftanlage in der Mitte des Oktogons geführt hatte, richtete sich das Interesse des Präfekten und des Bischofs 1803 auf das Grab Ottos III. im gotischen Chor, das zunächst seinen Aufbau einbüßte, sodass Untersuchungen ohne Schwierigkeiten möglich waren. Auch hier wurde man fündig. Neben Gebeinen unter dem Hochgrab befand sich offensichtlich noch ein weiteres Grabmal, das jedoch seinerzeit nicht geöffnet wurde.[13] Die Spur ist insofern interessant, da bereits in der frühen Neuzeit um 1620 der erste Aachener Chronist Peter von Beeck darüber informierte, dass die Gruft Karls des Großen sich ursprünglich in der Mitte des Oktogons befunden hätte unter weißen Steinen.[14] Ob der Sarkophag tatsächlich nicht geöffnet wurde, wie man berichtete, bleibt aber anzuzweifeln, da 1804 Berdolet, der Präfekt Mèchin, der Baumeister Kopmann und verschiedene Werkmeister offenbar doch den Sarg öffneten, aus dem dann Gebeine nach Paris verschickt wurden.[15]
4… Und es geht weiter!
Der Kölner Konkurrent hatte in den Reihen der preußischen Ministerialbürokratie eine merklichere Lobby. „Neue Besen kehren besser“, zumindest für die notwendig gewordenen Restaurationen im Aachener Münster traf es zu seit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV. 1840. Mit der französischen Besatzungsmacht seit den 1790er Jahren hatten französische Kunstkommissare stetig Kulturgüter nach Paris verfrachten lassen, darunter Aachener Inventar wie die Arkadensäulen, den Proserpina-Sarkophag oder die Aachener Wölfin. Dahingehende Beschädigungen, unvollständige Rücktransporte nach 1815 und enge Finanzspielräume hinsichtlich der Erneuerungen führten über die Jahrzehnte zum fragmentierten und renovierungsbedürftigen Zustand des Aachener Münsters. Schon 1841 erfolgte die königliche Order, wonach die Maßnahmen zur Wiederaufrichtung der Arkadensäulen einzuleiten wären. Damit begann eine Restaurationsphase des Aachener Münsters, die bis in das beginnende 20. Jahrhundert fortgesetzt werden sollte. Unkenntnis oder Geschichtsklitterung führten besonders im Innern der Pfalzkapelle zu Verfälschungen. Den Zeitgenossen war dieser achteckige Zentralbau mit sechzehneckigem Umraum schon ein Staunen wert, in dem schließlich 936 die Anwesenden der Königskrönung Ottos beiwohnen durften.[16] Charakteristisch für das Innenleben dieser Pfalzkapelle ist das schon erwähnte Oktogon, bei
dem die Wandflächen in die acht Kappen des stabilen Klostergewölbes nahtlos verlaufen. Das Gewölbe verfügt dabei über eine Scheitelhöhe von mehr als 30 Metern. Anfänglich figürlich bemalt, erhielt das Gewölbe eine Mosaikverkleidung.[17] Auf Höhe des Emporenfußbodens erfolgt eine Teilung der Wände mittels eines umlaufenden Karniesgesims, wobei die stattlichen Bogenöffnungen als Wandflächenverbleib auf gewinkelten Pfeilern ausgestellt sind zu den Emporen mit jeweils zwei Säulen. Die stützen wiederum eine mehrbogige Brücke, auf der abermals Säulen einen sichelförmigen Bogen tragen. Die Ausschmückung auf den glatten Wänden beinhaltet korinthische Kapitelle als römische Spolien mit Kämpferblöcken und Bronzegittern. Attischen Basen sind aus weißem Mamor und karolingisch, anderen Säulen aus italienischem Mamor, Granit und ägyptischem Porphyr. Große Rundbogenfenster sind mit karolingischem Topos in die Wandflächen eingeschnitten. Der sechzehneckige, untere Umraum ist von Kreuzgrat- und Dreistrahlgratgewölben ohne Gurtbogen überdeckt und war im Ostjoch ursprünglich durch Schranken rubriziert. Die Empore, über zwei Wendeltreppen zugänglich, besitzt radial gestellte Schwibbögen, die als Trägerbögen Mauern tragen für gespannte Tonnengewölbe. Die Außenmauer ist von Fenstern durchbrochen und an einigen Seiten flach genischt.[18]
1842 begannen erste Sondierungen hinsichtlich der vorzubereitenden Bodeneingriffe, und ein Triumvirat aus dem damaligen Stiftspropst Claessen, dem Brüsseler Altertumswissenschaftler Bock und dem Kunsthistoriker von Olfers aus Berlin koordinierte diesbezüglich die neue Forschungsgrabung parallel zu den Renovierungsarbeiten im Aachener Münster. Das Abbild einer Baustelle musste im marginalen Bereich gehalten sein, denn der Aushub bei aufgenommen Bodenplatten und durchbrochenem Estrich musste zur nachfolgenden Frühmesse wieder zurückgeschaufelt werden. Täglich! Claessen standen nur wenige Arbeitskräfte zur Verfügung, und die visuellen Arbeitsbedingungen waren bei Nichtexistenz von Gaslicht im Münster zwar der Konspirationsaura angemessen, aber selbst für Frühformen der Archäologie wenig einladend. Übrigens, die Aushubsequenzen richteten sich nach den Ergebnissen der Akteneinsicht durch Bock, der das Karlsgrab im Südosten des Sechzehnecks vermutete. Anfang Juni 1843 konnten dann erste Erfolge kundgetan werden, als zunächst Claessens Arbeiterbrigade zur nächtlichen Stunde im Joch vor der Ungarnkapelle auf ein Grab stießen, allerdings mit Schädel im Grabinventar. Und Karls Schädel befand sich ja – der Reliquiengläubigkeit angemessen – in der Karlsbüste.[19] Am 9. Juni 1843 kam jedoch ein Bleisarkophag im Südosten des Sechzehnecks zum Vorschein, und Claessen stellte – wie in der Planungsphase auch besprochen – die Bauarbeiten ein zwecks Berichterstattung an den preußischen König.[20] Die Erwartung ob des Bleisarkophags war mit der Ankunft des Kunsthistorikers von Olfers im Oktober 1843 charakterisiert, denn erst in Anwesenheit des Berliner Museumsdirektors wurden die Ausgrabungsarbeiten wieder aufgenommen. Die Ungarnkapelle und die Bleisarggruft wurden nun einer besonderen Analyse zugeführt, und im nördlichen Bereich des Sechzehnecks vor der Hubertuskapelle erschien nun unter dem Erdreich ebenfalls ein Bleisarg. Beide Särge wurden den Reliquien zugeordnet, und die Ausgrabungswut hatte begonnen. Verlockend war die Aussicht auf interdisziplinärem Ruhm oder zu einem der ersten Veteranen der Archäologie zu gehören, mit dem Prädikat des Legendären behaftet. Was bleibt, ist in der Geschichte der Archäologie ein Sammelsurium an römischen Befunden, mittelalterlichen Gruftanlagen, Reste des ursprünglichen Westportals der Marienkirche und die Gebeine eines Ritters namens Chorus. Immerhin war dieser Gerhard Chorus im Spätmittelalter eine Ikone der Aachener Amtsvorsteher und Hauptinitiator zum Bau des gotischen Chorschiffes am Aachener Dom gewesen oder seine Verdienste lagen im Ausbau eines äußeren Stadtringes und der Grundsteinlegung für das neue Rathaus ab 1330.[21] Zumindest gab es ab Oktober 1843 richtige Ausgrabungssalven während der „Aachener Nächte“, wie später von Olfers noch zu berichten wusste.[22] Das Auffinden der Gebeine Karls des Großen blieb der 1843er Ausgrabung versagt, aber immerhin konnte manches Licht in den Legendenkatalog durchdringen. Die einst von Berdolet zum Zwecke der Aufwertung der Bischofskirche installierte Grabplatte konnte kategorisch als verortete Karlsgruft enttarnt werden. Und die Schreine und Leiber der Märtyrergestalten Corona und Leopardus gehörten zum Kollateralgewinn dieser archäologischen Ausgrabung.
5. Ein neuer Anlauf
Die im Oktober 1843 eingestellten Grabungen verweilten im Ruhemodus dann beinahe 18 Jahre bis zum Restaurierungsplan des Kölner Dombaumeisters Ernst Friedrich Zwirner, der 1859 die Kaiserkruft für Karl dem Großen im Oktogon ausrief wieder die vorliegenden Erkenntnisse. Das Bauvorhaben benötigte als genetische Legitimation die Authentizität, was nur durch einen irgendwie gearteten Fund untermauert werden konnte. Die Reputation dieses Vorhabens musste gewährleistet sein. Wie hieß es doch treffend bei dem Aachener Kanoniker Wilhelm Prisac:
„Dieser Gedanke konnte weder bei dem aachener Stiftscapitel, noch bei der erzbischöflichen Behörde in Köln Beifall finden, wenigstens so lange nicht, als man weder die Stelle noch das Grab selbst, das hergestellt werden sollte, kannte. Man fürchtete eine Einrichtung, welche dem Bauwerk in seiner ganzen Anlage durchaus fremd, und eine Erneuerung, die zu allerlei Irrthümern und Täuschungen Veranlassung geben könnte.“[23]
Ein Flächenbrand an Ausgrabungsstürmen war nicht zu attestieren für diese zweite Grabungswelle, und selbst der 1843er Hauptinitiator Bock hielt sich bedeckt und gab lediglich einen Alternativplatz für das Karlsgrab zu Worte, indem er die Gruft nun innerhalb des Chores südwärts von dem karolingischen Hochaltar vermutete. Da die konkreten Längenangaben des Chores nicht bekannt waren, blieb seine Verortungsthese a priori nicht verifizierbar, a posteriori blieb nur die Grabung. Zudem lokalisierte er die Gebeine des Karolus magnus südlich der Ottonengruft Ottos III.[24] Um einen Diskurs zu vermeiden oder einfach nur der Diversifikation Tribut zu zollen, argumentierte Bock, dass das Karlsgrab möglicherweise mit dem Abtragen des ursprünglichen Chores zerstört wurde und der Sarkophag im südöstlichen Joch des Sechzehnecks neu platziert worden sei.[25] Der Beginn der neuerlichen Grabungen ist datiert auf den 2. September 1861. Von Olfers und Bock aus der ersten Grabungsmannschaft 1843 waren involviert, und im Zentrum der Ausgrabungen stand das Areal um den gotischen Chor und das Oktogon. Methodische Revolutionen als Abgrenzung zu den Ausgrabungen von 1843 waren nicht zu verzeichnen, jedoch sollten zeichnerische Protokolle angefertigt werden zu den Fundsachen. Noch unberührte Stellen im Münster waren von großem Interesse, aber auch 1843 aufgedeckte Befunde wurden erneut freigelegt. Aus dem Erinnerungsbericht des Kanonikers Prisac kann entnommen werden, dass offenbar ein wenig Areal unberührt blieb, sonst alles durchwühlt wurde, insbesondere am Ostjoch des Sechzehnecks. Dieses kleine Areal blieb aber in der Verortung unkonkret und kann nur identifiziert werden mit namentlich nicht erwähnten Stellen in den Grabungsberichten. Aber auch hier liegt eine unbestimmte Komponente im Ausschlussverfahren, denn zahlreiche Stellen des Oktogons und in der Vorhalle waren nicht analysiert worden. Der Drang der archäologischen Konquistadoren um von Olfers und die anwesenden Kanoniker muss der eitlen Genugtuung viel abverlangt haben, aber mehr als die Ausmaße des karolingischen Chores und die Identifizierung der Ottogruft waren im Grabungsresümee 1861 nicht zu verzeichnen. Das eigentliche Objekt der Begierde blieb für die Anwesenden kaschiert, und so kommentierte denn der Stadtkanoniker Prisac wie folgt:
„Aber von einem Grabgewölbe oder einem bestimmt markirten Grabe Karl´s des Großen fand sich wenigstens keine sichere Spur, obgleich der viele Bauschutt verrieth, daß hier der Boden allenthalben durchwühlt (…).“[26]
Elemente aus dem Fundkatalog sollten den Museen zur Verfügung gestellt werden. Blieb nur die Hoffnung auf neuerliche Ausgrabungen. Von Olfers schrieb denn auch im November 1861 an das Stiftskapitel:
„Es ist mir jetzt noch weniger, als schon früher, zweifelhaft, daß die ursprüngliche Grabstätte Karls des Großen nicht mehr aufzufinden ist, und daß sie von der Art war, daß sich an ein Begraben des Leichnams in aufrechter Haltung nicht denken lässt […]. Bei all dem wäre es gut gewesen, bei der Wiederaufnahme der Nachgrabungen keinen Raum ununtersucht zu lassen, (…).“[27]
Das Grab Karls des Großen blieb verschollen. Instinktiv spürte es auch von Olfers, der mit weiteren Ausgrabungen womöglich nur eine Bestätigung der Nichtexistenz anvisierte. Ihm blieb es danach verwehrt, die Bestätigung der Nichtexistenz oder wenigstens das Verstärken des Nichtvorkommens auf dem Pfalzareal in irgendeiner Form begleiten zu dürfen.
6. Die Taufkapelle … Ein Duell zur Domumgebung
Kapellenbauten gehören ohne große Vorstellungskraft zu Domumgebungen und sind als bauliche oder funktionelle Elemente in ein (Pfalz-)Areal integriert. Ob diese Kapellen auch in der Karolingerzeit respektive in der Regierungsära Karls des Großen aufzufinden waren, ist präsumtiv und ein quellentechnisches Vabanquespiel. Hat es eine fränkische Vorläuferkapelle gegeben oder eine separierte Taufanlage im Dom? Oder erfolgte trotz des Marienkirchenbaus eine kursorische Nutzung einer wie auch immer vorhandenen Taufeinheit? Der Grad an Unsicherheit in den Quellen geht jedoch nicht einher mit den kategorischen Existenznegierungen solcher Bauelemente. Carl Rhoen hatte 1891 unmissverständlich die Taufkapelle in ihrer Nichtexistenz über die geringe Anzahl an Christen vor Karl dem Großen begründet („Im Übrigen dürfte, bei der nur geringen Anzahl von Christen, welche sich hier vorfanden, eine Taufkapelle, (…), wohl auch hier nicht vorhanden gewesen sein.“[28]). Gehen wir plastisch vor, bleibt zu konstatieren, dass in den Überresten der römischen Thermenanlage in Oktogon und Sechzehneck keine beckenartige Anlage je zu einem Grabungsfund gehörte oder dazu affine Überreste konstruktiv in den Existenzdiskurs hätten einfließen können. In der Literatur standen daher zur Abwehr jedweder dogmatischen Restriktion in der Archäologie alternative Verortungen zum Diskurs. Zum einen sehen die Pragmatiker am Eingang zum Domhof die naheliegende Verortung einer frühmittelalterlichen Taufanlage. Hier liegt die Kapelle des Heiligen Johann Baptist, die nachweislich seit dem Spätmittelalter als Taufkapelle genutzt wurde. Zum anderen gibt es die Fraktion, die in den Überresten – im 18. Jahrhundert unter der Ungarnkapelle zu Tage getreten – einen fränkischen Vorläufer der standardisierten Taufkapelle sehen. Ziehen wir quellentechnisch zu Gericht und resümieren beide Fraktionen ohne Reszission.
6.1. Zum Duellanten 1
Mitte des 18. Jahrhunderts wurden bei Umbaumaßnahmen unter der Ungarnkapelle Mauerzüge entdeckt. Ursprünglich sollte der Aachener Stadtbaumeister Johann Joseph Couven die gotische Ungarnkapelle abbrechen und neu aufführen.[29] Mängel am Rohbau führten zum Abbruch, und sein Nachfolger Joseph Moretti erhielt den Auftrag zu größeren Umbauten, in deren Zusammenhang dann neue Ausschachtungen 1756 die römischen Baureste zu Tage beförderten. 1781 publizierte der Aachener Stadtarchivar Karl Franz Meyer die Überreste im Modus der Digesten mit Bilderläuterungen.[30] Die Provenience dieser Überlieferung ist jedoch spekulativ und wird prinzipiell indezent abgelehnt. Es wird vermutet, dass Baumeister Simar Fachliches beisteuerte, die Simarschen Überlieferungen aber nicht durch Detailtreue und einen überdurchschnittlichen Fundus an darstellender Geometrie punkten in der literarischen Nachwelt. Der ambivalente Charakter dieses Quellenzugangs wird intensiviert durch das latente in Abrede stellen hinsichtlich der Meyerschen Aufzeichnungen. Da spricht die Fachwelt von einem unzuverlässigen Gesamtbild, von apokryphen Rekonstruktionen unter dem Deckmantel des Barocken oder gar von Geschichtsklitterung.[31] Der Stadtarchivar Meyer sah in seiner Deutung keinen Spielraum für Alternativen bezüglich der römischen Vergangenheit, aber bereits die Datierung war dem Diskurs zur freien Entfaltung übergeben. Cornelius Peter Bock und der Aachener Stadthistoriker Christian Quix verneinten diese Provenience der Altersdatierung, wohingegen der Stadtarchivar Richard Pick 1888 über den Kompromiss der Zusammenführung beidseitiger Thesen, also des römischen Erbes eines so noch nicht titulierten Bades mit nachträglicher Umfunktionierung zum Taufbecken, die prekäre Quellensituation und deren anhängende Konklusionen diplomatisch verpackte.[32] Zudem erfolgte 1890 durch den Vermessungstechniker und Bauunternehmer Rhoen, also einem Mann aus der täglichen Praxis, eine Neuauflage der Meyerschen Zeichnungen. Rhoen griff auf das Simarsche Material zurück, führte Zeitzeugengespräche und umzeichnete den Simarschen Grabungsplan in Ansicht und Grundriss der Grabungen unter der Ungarnkapelle von 1756. Rhoen und Meyer weichen jedoch in ihren Aufzeichnungen ab, und welcher Grabungsplan mit der archäologischen Fundkiste in Übereinstimmung zu bringen ist, kann heute nicht mehr ermittelt werden.[33]
Übereinkunft, logische Ausschlussverfahren oder Neubewertungen waren in diesem Klima der Rezeption nur bedingt möglich. Als 1952 der Kunsthistoriker Hans Christ lediglich in Nuancen die Zeichnungen von 178 korrigierte und die Interpretationspalette ergänzte ob der vorliegenden Befunde, kam es nachträglich zu einer heftigen Anfeindung, als der Archäologe Heinz Cüppers die Irrelevanz attestierte, da Meyer 1781 und Rhoen 1890 offensichtlich auf archäologischen Heterodoxien bauten. Dass das mit der Irreführung vielleicht psychologisch als Ausdruck einer semantischen Überforderung zu interpretieren wäre, bleibt dem Leser überlassen; auch der Aachener Architekt Hans- Karl Siebigs verdrehte nahezu die Argumentation des Kunsthistorikers Christ.[34] Was war aber so befremdlich an dessen Argumentation? Christ vermutete, dass durch die Einbindung des Grundrisses in den Grabungsfund und die Assoziierung mit der römischen Architektur der Grabungsplan von 1781 als detailliert anzusehen wäre. Hier setzten auch seine Kritiker wie Cüppers oder Siebigs an, als sie die auf Biegen und Brechen gezimmerten Parallelen zwischen den Lichtintensitäten und den römischen Raumverhältnissen unter der Ungarnkapelle anzweifelten.[35] Christ selbst war aber in seiner Analyse austarierend, denn er ging nicht ausschließlich konform mit den Meyerschen Argumentationen. Das (mögliche Tauf-)Becken sah er rund, nicht im ovalen Modus. Auch die Grundrisse der Nebenräume ordnete er der unterschwellig barocken Interpretation des Stadtarchivars Meyer zu. Ebenfalls mit dynamischem Engagement, wohl eher dem Hyperboliker zugeordnet, stufte er die Meyerschen Aufzeichnungen ein bezüglich der Höhe des Mauerwerks unter dem Domfußboden als völlig überzogen ein. Die Aufzeichnungen Meyers sprechen von sechs großen Öffnungen am Rand des Badebeckens, so dass Christ hier ein Quellbecken ansetzt, von dem aus das Wasser dann in die einzelnen Badebecken transportiert wurde. Hier argumentierte er schlüssig, denn die dortigen Sinterablagerungen waren ein Beleg für die Existenz von Thermalwasser. Wie kommt es nun aber zum Taufbecken?
Hier nimmt Christ an, dass das Quellbecken in der Spätantike umgebaut wurde nach einem möglichen Versiegen der Quelle, als Hypothese statuiert, wohlgemerkt. Der Quellvorbruch sei verstopft und der Boden des Beckens mit rechteckigen Platten abgedichtet worden, die einstigen Absaugrohre blieben ohne weitere Verwendung. Und das in Meyers Aufzeichnungen erkennbare Einlaufrohr zur Befüllung mit kaltem Frischwasser sei nachträglich im Zuge der Umstrukturierung verlegt worden.[36] Das Bleirohr am Bodenbecken sicherte den Wasserabfluss, ebenfalls erst nach Aufgabe der Thermalfunktion verlegt. Christ selbst sah den Wandel von einer Thermaleinrichtung hin zu einer frühchristlichen Kultstätte als evident an für die Umbaumaßnahmen vom Quellbecken zum Kaltwasserbecken. Dogmatisch erklärt Christ dann auch:
„Mit dieser Kirchengründung – und nur mit dieser – kann dann eine so folgenschwere Maßnahme wie die Aufgabe des Heilbades durch den Umbau des Quellbeckens in ein mit Zu- und Ableitung versehenes Kaltwasserbecken erklärt werden. Dieses war nichts anderes gewesen als das Taufbad der frühchristlichen Kirche.“[37]
Das dieses Zitat nicht der Prototyp einer aristotelischen Logikkette sein kann, bedarf keiner näheren Begründung. Auch das Ausmaß an Kritik gegenüber dem Deutungsmodell des Kunsthistorikers Christ verlangt einen Tribut. Und die Gründe sind von handfester quellentechnischer und baulicher Natur. Die Aufzeichnungen von Meyer und Rhoen sind nur bedingt verifizierbar, da die Professionalisierung der Archäologie Mitte des 18. Jahrhunderts nicht die Maßstäbe heutiger Dokumentationen erfüllen konnte. Verschollene Urpläne als Grundlage für eigene Grabungspläne und daraus resultierende auffallende Unterschiede lösten Skepsis aus in der Fachwelt. In Rhoens Skizzierungen sind die Grundrisse weit über die Ungarnkapelle hinaus eingetragen. Meyer hat von drei eingetragenen Räumen nur den nordwestlichen unter der Kapelle, die beiden anderen sind außerhalb gelegen, was den Maßstab vergrößert. Und im 20. Jahrhundert getätigte Ausgrabungseinheiten unter Erich Schmidt (1910-1915) widerlegten die Ansichten Rhoens unmissverständlich. Zudem konnte an der Person Hans Christ die unheilige Symbiose von wissenschaftlicher und politischer Ablehnung mit nachgelagertem Schlechtbefund der Forschungsergebnisse demonstriert werden. Auch Widersprüche zu den Aussagen des Dombaumeisters Joseph Buchkremer[38] bezüglich der frühmittelalterlichen Ursprünge der Taufkapelle am Eingang zum Domhof verstärkten die Animositäten gegen Christ, obwohl beide durchaus ein vernünftiges Verhältnis pflegten und Buchkremer sogar Christ in dessen Bemühen um eine Veröffentlichung der Schmidtausgrabung unterstützte.[39] Ein weiteres bauliches Argument war das schwierige Ineinandergreifen der Ungarnkapelle in das Gesamtbild einer Thermenanlage, da die zahlreichen Zu- und Abflüsse eines Thermalquellbeckens so nicht zum Grabungsfund gehören. Lediglich ein 1911 entdeckter holzgefütterter Kanal konnte in die Argumentation eingebracht werden, der auch noch einige Meter von der Ungarnkapelle entfernt ausgegraben war. Und die Ausgrabungen unter Regierungsbaurat Erich Schmidt brachten keine Anhaltspunkte für Zu- oder Abflüsse; und Schmidt selbst blieb bei seinem Aushuborten außerhalb der Ungarnkapelle.
6.2. Zum Duellanten 2
Es ist naheliegend, dass ein Bauelement am Eingang zum Atrium das Taufelement für sich in Anspruch nimmt. Das Atrium selbst ist ein im Westen der Pfalzkapelle vorgelagertes Gebäude in den Ausmaßen 28 m x 40 m . Der heute noch existierende gotische Kapellenbau mit barocken Stilelementen am Eingang zum Atrium diente seit dem 13. Jahrhundert als Taufort für alle Aachener Kinder bis zum Reichsdeputationshauptschluss 1803. Diese Kapelle war misst in Nord-Südrichtung 10 m und 8,15 m in Ost-Westrichtung und ist Johannes dem Täufer geweiht. Es war vor allem Joseph Buchkremer, der mit seinen Vermessungen die Taufkapelle in die Ära des fränkischen Vorgängerbaus datierte, wobei die Achsausrichtung der archimedische Punkt der Argumentation darstellte. Buchkremer entdeckte, dass die Verkippung des achsenverschobenen Altarfundaments [Anmerkung: im Ostjoch des unteren Sechzehnecks] der Verkippung der Taufkapelle vollständig entspräche. Beide Fundamente integrieren sich harmonisch in das Gesamtgefüge ein. Das alte Altarfundament war der Vorläufer für den karolingischen Marienaltar, und die Taufkapelle nötigte die Baumeister, Westbau und Atrium um einen Meter nach Norden zu verschieben, damit weiterhin der Westflügel des Atriums begehbar bliebe und dem Besucher suggerierte, dass dieser auf der streng nach Osten ausgerichteten Kirchenachse auf das Allerheiligste zusteuern müsste. Grundlage für diese These sind die Vermessungsergebnisse für die Achse des Atriums und der Kirche und der Achsverschiebung der Kapelle gegenüber dem Atrium. Auch die Nichtexistenz der Orthogonalität zwischen West- und Nordflügel des Atriums, sondern ein spitzer Winkel, den Buchkremer aus der Mauerzuführung erkennen musste, führten auf ein Maßungleichgewicht, dass man den karolingischen Baumeistern absprach. Also ging es in den spätmerowingischen Baustil oder in die Frühphase der Karolinger vor Karl dem Großen. Und das in einem Gradbereich, in dem der komplette Westflügel mit der Taufkapelle die gleiche Richtung erhielt.[40] Die Richtigkeit seiner Vermessungsergebnisse wäre nicht disputabel bei Vorliegen der korrekten Fundamentverläufe für das Atrium. Es war jedoch Buchkremers Nachfolger im Dombaumeisteramt, ein Mann namens Kreusch, der bei nachfolgenden Untersuchungen die Exaktheit der nordsüdlich verlaufenden Atriumwestmauer aufzeigte. Darüber hinaus war die Achsenabweichung von Atrium zur Pfalzkirche nicht so eklatant wie noch bei Buchkremer. Der Verschub lag deutlich unter einem Meter. Und das Westportal des Atriums konnte mit seiner Achsenverschiebung um etwas weniger als 30 cm den Atriumverschub zur Pfalzkirche weitgehend kompensieren. Kreusch erklärte diese Abweichungen mit Messfehlern oder sie widerspiegelten die Rücksichtnahme auf vorhandene Baustrukturen. Hier sprach Kreusch seinem Amtsvorgänger aber die Reputation hinsichtlich der Schlussfolgerung ab, denn die räumliche Distanz hielt er für evident, um zwischen Kapellenachse und Altarfundamentachse keinen Bezug zu konstruieren.[41]
7. Resümee
Ob der Mediävist Ludwig Falkenstein 1970 in seiner Zwischenbilanz zur Aachener Pfalzenforschung die Longivität der Gültigkeit seiner von mir im Proömium zitierten Passage ahnen konnte, kann nicht der Gewissheit zugeordnet werden, aber den zeitgenössischen Diskursen kann man nichts Gegenteiliges entnehmen. „Deshalb bin ich nicht hoffnungslos“, formulierte einst der Aachener Dombaumeister Helmut Maintz ob der weiteren Möglichkeiten des Auffindens des Karlsgrabes am Ende eines mehrjährigen archäologischen Ausgrabungsmarathons 2010.[42] Die diabolische Symbiose aus Segen und Fluch, die Maintz´ Aussage konkludiert, konterkariert unverschuldet jegliches Bemühen um ein enzyklopädisches Kompendium für den Aachener Pfalzkomplex. Nehmen wir die Aula zur Demonstration, deren abgetragene Bausubstanz nur wenige Indizien zulässt zur Rekonstruktion. Der Granusturm ist zwar das am höchsten erhaltene Bausubstrat, ob aber die Königshalle in mehreren Ebenen gegliedert war, kann nur in allen denkbaren Konjunktivformen formuliert werden. Oder eben auch nicht! Zumindest wäre es anzufragen, ob nicht auch die Königshalle eine zweite Ebene hätte besessen haben können – möglicherweise in Äquivalenz zur Empore der Pfalzkirche. Der Granusturm exkludiert diese Höhenstaffelung nicht. Offenbarte sich Falkenstein noch in der Vergegenwärtigung der wissenschaftlichen Diskurse, konnte das plastisch-enaktive Pendant spätestens während der französischen Besatzung ab 1794 in den Quellen herausgelesen werden. Die mehr pyknisch als grazil durchgeführten Archäologieexpeditionen in den Olymp der deutschen Königskrönung unter Berdolet, Claessen, Bock oder von Olfers gehören sine dubio in die mit Anekdoten angereicherten Gründerjahre der professionalisierten Archäologie, konnten aber ein entmystifizierendes Apodiktum hinsichtlich der Karlsgrabverortung nicht liefern. Einer der mächtigsten Männer des Frühmittelalters in seiner verorteten Grabesruhe nicht ausfindig machen zu können, das obliegt den Mysterien in der Menschheitsgeschichte. Systematisches Katalogisieren der vorliegenden Überreste, rationales Durchwühlen des Dombodens und die latenten Fieberschübe ob der Planung und Durchführung neuer Ausgrabungen verursachen im Konglomerat eine affektive Karlsgruftsuche, die in der Abwägung von schriftlichen und baulichen Überresten den Königsweg zur Grabfindung kaschieren, der a priori in der Existenz angenommen wird.
Dass das mit der Univozität bezüglich des Kapellendiskurses auf Grundlage der vorliegenden Forschungsergebnisse nicht befremdlich wirken kann, ist der Ausartung an Fachbeiträgen und ambivalenten Meinungsbildern geschuldet. Die Duellantenkorps versinnbildlichen dahingehend die stochastischen Thesen. Geht es explizit um die Taufkapelle, muss man sich zunächst vergegenwärtigen, dass der Bau der Taufkapelle am Ausgang des Atriums erst im Hochmittelalter ansetzt, obgleich Aachen damit den verspäteten Taufkapellengründungen in Mitteleuropa zuzuordnen wäre. Und das bei diesem Hort an Ausmaß zum Sendungsbewusstsein der Christenheit? Der Vorgängerbau ist unbestimmt. Und die Verortung derselben ist wie die Lokalisierung einer Taufkapelle – ob am Eingang zum Domhof oder unter der Ungarnkapelle – von zu vielen Unwägbarkeiten oder Negationen begleitet. Da erscheint die Buchkremersche These von der Rücksichtnahme der Bauherren am Vorgängerbau bezüglich der Abweichung der hochmittelalterlichen Kapelle vom orthogonalen Winkel des Atriums als wenig fundiert und noetisch. Kreusch´ Neuvermessung des Domhofs und der Kirchenachse negierten die Buchkremerschen Assoziationen. Auch die Grabungen in der Taufkapelle konnten karolingische oder anderweitige frühmittelalterliche Fundamentüberreste zum Vorschein bringen.
8. Quellen und Literatur
Binding, Die Aachener Pfalz Karls des Großen als archäologisch-baugeschichtliches Problem, in: Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters 25/26 (1997/98), S. 63-85.
Bischöfliche Diözesanarchiv in Aachen (BDA), Ala Aachen, Dom 10 (Acta betreffend Aufsuchung des Grabes Karls des Großen, 1842-1882).
Bischöfliches Diözesanarchiv in Aachen (BDA), Gvo Aachen, Dom 7a, I (Nachforschung nach den Kaisergräbern, 1843-1910).
Buchkremer, Die Taufkapelle am Aachener Dom, eine vorkarolingische Gründung (Bonn 1949).
Christ, Das Römerbad unter der ungarischen Kapelle (Aachen 1952).
Domarchiv Aachen (DAA), Probsteiarchiv Nr. 91 (Bausachen, Freilegung des Münsters, Regulierung Chorusplatz, 1849-1895).
Falkenstein, Zwischenbilanz zur Aachener Pfalzenforschung, Kritische Bemerkungen zu Forschungsberichten über die Aachener Pfalz im Sammelwerk „Karl der Große – Lebenswerk und Nachleben“ (Zeitschrift Aachener Geschichtsverein 80), 1970.
Hansen (Hrsg.), Quellen zur Geschichte des Rheinlandes im Zeitalter der Französischen Revolution 1780-1801 3: 1794-1797 (Bonn 1931-38).
Holder-Egger, Einhardi Vita Karoli Magni. Monumenta Germaniae Historica Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi 25 (Hannover 1911).
Keller, Archäologische Forschungen in Aachen. Katalog der Fundstellen in der Innenstadt und in Burtscheid (Mainz 2004).
Kraus, Von den Anfängen bis zur Gegenwart 2: Karolinger – Ottonen – Salier (Aachen 2013).
Kreusch, Über Pfalzkapelle und Atrium zur Zeit Karls des Großen. Dom zu Aachen (Aachen 1958).
Lambertz, Der Tod Kaiser Ottos III. und sein Grab im Dom zu Aachen (Aachen 2002).
M. Lersch, Römische Legionsziegel zu Aachen, Tegulae transrhenanae, in: Zeitschrift Aachener Geschichtsverein 7 (1885), S. 159 – 173.
Pick, Kleinere Beiträge zur Aachener Geschichte und Topographie, I. Wann erhielt Aachen seine erste Befestigung, in: Aus Aachens Vorzeit 1, 2 (1888), S. 97-104.
Pohle, Die Erforschung der karolingischen Pfalz Aachen. Zwei Jahrhunderte archäologische und bauhistorische Untersuchungen. Rheinische Ausgrabungen (70), (Darmstadt 2015).
Prisac, Resultate der Nachgrabungen zur Wiederauffindung des Grabes Karls des Großen, in: Kölner Domblatt (1862).
Rhoen, Die ältere Topographie der Stadt Aachen (Aachen 1891).
– K. Siebigs, Bauliche Sanierungsmaßnahmen an der Ungarnkapelle des Domes zu Aachen in den Jahren 1991-1994 (Aachen 2000).
– K. Siebigs, Der Zentralbau des Domes zu Aachen. Unerforschtes und Ungewisses (Worms 2004).
Wehling, Die Mosaiken im Aachener Münster und ihre Vorstufen (Köln 1995).
[1] L. Falkenstein, Zwischenbilanz zur Aachener Pfalzenforschung. Kritische Bemerkungen zu Forschungsberichten über die Aachener Pfalz im Sammelwerk „Karl der Große – Lebenswerk und Nachleben“ (Zeitschrift Aachener Geschichtsverein 80), 1970, S.70.
[2] T. Kraus, Von den Anfängen bis zur Gegenwart 2: Karolinger – Ottonen – Salier, (Aachen 2013), S. 271 (im Folgenden zitiert als: Kraus, Gegenwart).
[3] F. Pohle, Karl der Große – Charlemagne (Dresden 2014), S. 236.
[4] G. Binding, Die Aachener Pfalz Karls des Großen als archäologisch-baugeschichtliches Problem, in: Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters 25/26 (1997/98), S. 63 – 85, S. 69 (im Folgenden zitiert als Binding, Problem).
[6] S. Ristow, Die Pfalz in Aachen. Nicht nur Karls Werk, in: Archäologie in Deutschland 6, (2012), S. 6.
[7] O. Holder-Egger, Einhardi Vita Karoli Magni. Monumenta Germaniae Historica Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi 25 (Hannover 1911), S. 20.
[8] F. Pohle, Die Erforschung der karolingischen Pfalz Aachen. Zwei Jahrhunderte archäologische und bauhistorische Untersuchungen. Rheinische Ausgrabungen (70) (Darmstadt 2015,) S. 3 (im Folgenden zitiert als: Pohle, Erforschung).
[10] J. Hansen (Hrsg.), Quellen zur Geschichte des Rheinlandes im Zeitalter der Französischen Revolution 1780-1801 3: 1794-1797 (Bonn 1931-38), S. 744.
[11] Das Bischöfliche Diözesanarchiv in Aachen (BDA), Ala Aachen, Dom 10 (Acta betreffend Aufsuchung des Grabes Karls des Großen, 1842-1882), fol. 44v (Gutachten Cornelius Peter Bocks über die Lage des Grabes Karls des Großen vom 15. 10. 1860 in Wiederholung der älteren Ausführungen).
[19] BDA, Gvo Aachen, Dom 7a, I, fol. 10r-11r. Gemäß den Erkenntnissen des Altertumswissenschaftlers Bock vermutete Claessen, das Grab des Langobardenkönigs Desiderius entdeckt zu haben.
[22] Das Domarchiv Aachen (DAA), Probsteiarchiv Nr. 91 (Bausachen, Freilegung des Münsters, Regulierung Chorusplatz, 1849-1895), fol. 87r.
[23] W. Prisac, Resultate der Nachgrabungen zur Wiederauffindung des Grabes Karls des Großen, in: Kölner Domblatt (1862), Nr. 210 (im Folgenden zitiert als: Prisac, Resultate).
[30] H. – K. Siebigs, Der Zentralbau des Domes zu Aachen. Unerforschtes und Ungewisses (Worms 2004), S. 11-14 (im Folgenden zitiert als: Siebigs, Zentralbau).
[31]B. M. Lersch, Römische Legionsziegel zu Aachen, in: Tegulae transrhenanae, Zeitschrift Aachener Geschichtsverein 7 (1885), S. 159 – 173, S. 160 und Pohle, Erforschung, S. 263.
[32] R. Pick, Kleinere Beiträge zur Aachener Geschichte und Topographie, I. Wann erhielt Aachen seine erste Befestigung, in: Aus Aachens Vorzeit, 1, 2 (1888), S. 97-104.
[33] H. – K. Siebigs, Bauliche Sanierungsmaßnahmen an der Ungarnkapelle des Domes zu Aachen in den Jahren 1991-1994 (Aachen 2000), S. 23.
[38] Joseph Buchkremer war als Aachener Dombaumeister (1917-1949) die Institution in der Erforschung des Aachener Domes. Er verantwortete die Restaurationsarbeiten in der Zwischenkriegszeit, untersuchte die Bausubstanz der Marienkirche und formte eine Rekonstruktion der Pfalz Karls des Großen, von der er zeitlebens nie abwich. Einmal getätigte Ansichten waren ihm ein Verbindliches, wenig Spielraum für Konzessionen zeichneten seinen Kommunikationsstil aus.
[39] C. Keller, Archäologische Forschungen in Aachen. Katalog der Fundstellen in der Innenstadt und in Burtscheid (Mainz 2004), S. 23.
[40] J. Buchkremer, Die Taufkapelle am Aachener Dom, eine vorkarolingische Gründung (Bonn 1949), S. 207.
[41] F. Kreusch, Über Pfalzkapelle und Atrium zur Zeit Karls des Großen. Dom zu Aachen (Aachen 1958), S. 110-115.
Abb. 3: G. Binding, Die Aachener Pfalz Karls des Großen als archäologisch-baugeschichtliches Problem, in: Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters 25/26 (1997/98), S. 76.
Abb. 4: G. Binding, Die Aachener Pfalz Karls des Großen als archäologisch-baugeschichtliches Problem, in: Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters 25/26 (1997/98), S. 75.
Abb. 5: L. Falkenstein, Pfalz und vicus Aachen, in: C. Ehlers (Hrsg.), Orte der Herrschaft. Mittelalterliche Königspfalzen (Göttingen 2002), S. 155
Abb. 7: G. Binding, Die Aachener Pfalz Karls des Großen als archäologisch-baugeschichtliches Problem, in: Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters 25/26 (1997/98), S. 68.
Textbausteine, Semantik und ein Senatsbeschluss von 1386
Eine didaktische Reduktion nach Venedig
Die Sklaverei ist kein Artefakt mit der Stigmatisierung des in alten Zeiten Geschehenen. Die moderne Sklaverei kommt in subtiler Form daher, also ein Gegenwartsbezug in pervertierter Ausprägung. Dass das mit dem sportlichen Sommermärchen im Confederations Cup 2017 einen faden Beigeschmack hatte, blieb nur dem gewerkschaftlich und dokumentarisch interessierten Beobachter vorbehalten, denn als Panorama für den fußballerischen Triumph dienten Stadien, in denen mit geknechtetem Schweiß und Blut nordkoreanische Bauarbeiter im Akkord Zusatzschichten absolvierten, um der FIFA-Administration in deren Anspruchsdenken eine Saturierung bieten zu können. „Ohne Fleiß kein Preis“, mag der unbedarfte Leser denken, aber die Vergütung der Nordkoreaner war das entgeltliche Pendant zu den ungenügenden Arbeits- und Unterbringungsbedingungen der Bauarbeiter. Wider das bessere Wissen fühlte man sich durch die Kenntnisnahme entsprechender medialer Berichte in den betrieblichen Zeitsprung katapultiert zu den marginalen Auffassungsgaben von ethischem Arbeitsschutz und respektablem Werktätigenklima im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit.[1]
Offenbar gehört die Sklaverei zu den unrühmlichen Konstanten des menschlichen Zusammenlebens. Sine dubio, das wirtschaftliche Potential im Menschenhandel lässt die moralischen Schranken – so sie denn vorhanden sind – in die Schubladen der guten Absichten versinken. Und die zahlreiche Literatur zu diesem zeitepochenunabhängigen Thema ist ein Beleg dafür, dass das Sklavennehmen eine Ästimation innehat in der Rekapitulierung eines Kulturtransfers, der Vernetzung von Wirtschafts- und Sozialgeschichte und der Alltagsgeschichte im Allgemeinen. Servilitätsformen dienen nicht dem Fetisch, können aber eine Vertiefung im Bewusstsein für die Alltagsgeschichte vor Ort liefern, sozusagen das Kaizen im Ertrag eines transkulturellen Konglomerates. Und warum nun der mediterrane Raum? Der südeuropäische Raum und expressis verbis die italienischen Stadtstaaten sind prädestiniert für die Verortung zur Abhandlung von Servilitäten, da sie alleine schon über die Kriegs- und Handelsflotten und die Archivierung von Testamenten und Verträgen das beste Forum, um sich plastisch und quellentechnisch des mediävalen Servitiums anzunehmen. Bedenkt man, dass die Notariatsurkunden als ergiebige Quelle zur Erforschung von Servilitäten in den italienischen Städten während der Renaissance bei bis zu 40000 in der Jahresproduktion lagen, dann kommt man um diesen Schriftquell nicht herum trotz prozentual geringer Hinterlassenschaften auf diesem Gebiet.[2]
Die Ausführungen zum venezianischen Sklavenhandel genießen quellentechnisch den Charme, dass sie aus direkter Autorenhand der Juliane Schiel stammen, als die Historikerin zwecks Archivrecherche vor Ort im Archivio di Stato di Venezia (ASVe) weilte und noch uneditierte Notariatsurkunden analysierte. Zudem gehen ihre Bemühungen – und hier zeigt sich methodisch ihr Lehramtsstudium zu Beginn der wissenschaftlichen Laufbahn in Berlin – in einen plastischen Verismus. Um der Multiperspektivität und dem Stoffrahmen Einhalt gebieten zu können, muss sich dieser Beitrag auf eine Limitierung hinsichtlich des Zeitrahmens und des stofflichen Zugangs einstellen. Und die venezianische Republik im Spätmittelalter zum Übergang in das 15. Jahrhundert mit den organisatorischen Stufen „Zugriffsorte“, „Sklavengut“ und „Besitzübertragung“ wird dabei den lokalen Rahmen darstellen mit einem Senatsbeschluss von 1386. Methodisch soll dabei ein Werdegang generiert werden, der über semantische Charakteristika in den Notariatsurkunden in das Jahr 1386 führen will, als der venezianische Senat einen Beschluss vorlegte zur rechtlichen Unterscheidung von sclavi und anime, ergänzt um zentrale Zitate und deren ereignisgeschichtliche Hintergründe zu dieser Beschlussfassung von 1386.
Zugriffsorte, Handelsgut und Eigentum
In welchen Gefilden räuberten die Venezianer im Spätmittelalter, um das benötigte Humankapital auf den Galeeren, in der Landwirtschaft und in den Bürgerhaushalten zu konfiszieren? Wenig persönliches zu den Akteuren des Sklavenzugriffs kann aus den überlieferten Schriftquellen entnommen werden, da weder das Agens noch das Patiens in der semantischen Rollenverteilung einen Drang zur Kodifizierung verspürten. Die geographischen Titulierungen in den Schriftquellen lassen jedoch erkennen, dass die Hauptzugriffsareale in den mongolischen Khan
atsterritorien respektive im Einzugsgebiet der Goldenen Horde lagen. Konkreta wie Tscherkassen (circasso/circassa) oder Tataren (tartaro/tartara) ergeben ein nach Osten ausgerichtetes Einzugsgebiet vom Schwarzmeerraum über den Kaukasus bis in die russischen Steppen.[3] Bedenkt man, dass die venezianischen Kontore in der Blütezeit der Seerepublik vom Ende des 14. bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts sogar am Asowschen Meer, in Trapezunt oder in Ragusa auf Sizilien angesiedelt waren, verwundert die geographische Ausdehnung nicht. Zudem erfolgten auf dem bosnischen Balkan (de Bosna) Zugriffstouren zur Requirierung des Humankapitals. Die Kategorisierung nach Altersgruppen ist dabei quellentechnisch nicht dahingehend verifizierbar, dass die gewaltsam gefangen Genommenen aus dem Einzugsgebiet der Goldenen Horde signifikant älter waren als die balkanischen Bosnier, die vordergründig aus der wirtschaftlichen Not heraus Angehörige der gleichen Ethnie in die Schuldknechtschaft verkauften.[4] Lediglich die sich verändernden politischen Rahmenbedingungen im Schwarzmeerraum des 15. Jahrhunderts waren mit der Suprematie der Osmanen spätestens mit der Eroberung Konstantinopels 1453 von tragendem Gewicht derart, dass es Widerhall in den Quellen fand und somit die Nachwelt mit der Information versehen wurde, dass die Venezianer nun ihre Aquirierungsareale und Absatzmärkte verlagern mussten unter die westafrikanische Sphäre, dort allerdings im Schlepptau der Portugiesen unter Heinrich dem Seefahrer (1394-1460),
die ihrerseits aus Subsahara-Afrika das Menschenreservoir bezogen für die europäische Nachfrage. Unabhängig davon bleibt zu konstatieren, dass die Sklavennahme in den überlieferten Heberegistern venezianischer Kaufleute von unpersönlicher Natur war, dem Wesen nach also das persönliche Schicksal der Protagonisten des Patiens das Individuelle genommen wurde. Das Beutegut war ein gelistetes Neutrum ohne biographische Eckdaten, seiner personalisierten Provenienz beraubt.[5] Nachdem das Beutegut die zentralen Umschlagplätze an Häfen oder die Sammelstellen auf den Landrouten passierte, trat nun – ein Segen für den (Wirtschafts-)Historiker – eine stärkere Verschriftlichung ein als zu Beginn der Versklavung. Der Grad an Anonymität war schon dadurch einer Restriktion unterworfen, dass die Fernhandelsbeziehungen ein Mindestmaß an transregionaler Kommunikations- und Regresskultur erforderten. Der Prototyp dieser Geschäftsgebarden kann aus den Handelsbucheinträgen der Gebrüder Antonio und Nicolò Bondumerio aus Venedig herausgefiltert werden. Die Venezianer wickelten en gros ihre Geschäfte über den Notar Matteo de Andronicis ab, und der Schriftverkehr des Notars zeigt auf, dass die Gebrüder Bondumerico in den zwanziger Jahren des 15. Jahrhunderts vordergründig aus den russischen Steppen das Sklavenmaterial bezogen.[6] Zudem lag ein semantischer Gleichklang in den notariellen Beglaubigungen und Handelsregistern vor. So heißt es in einem Rechnungsbuch des venezianischen Kaufmannes Giacomo Badoer:
„ein Stück Mensch, weiblich, aus dem Volk der Tataren, ungefähr 18 Jahre alt, von großer Gestalt, in ihrer Sprache Oraxi genannt, für 135 yperperi.“[7]
Eine Notariatsnotiz eines Bernardo de Rodulfis aus den neunziger Jahren des 14. Jahrhunderts, der seine Amtsstube im venezianischen Rialto hatte, liest sich wie folgt:
„eine Sklavin aus dem Volk der Tataren mit Namen Cita, ungefähr 24 Jahre alt, gesund an allen ihren Gliedern, an den verborgenen ebenso wie an den sichtbaren, und frei von Fallsucht […].“[8]
An beiden Schriftstücken kann exemplarisch veranschaulicht werden, dass das Patiens in der Sklavennahme als quantifizierbare Einheit charakterisiert war unter Nutzung von transregional gültigen Bewertungskriterien hinsichtlich der monetären Kategorisierung, verbunden mit einer Vorselektion für zukünftige Tätigkeiten.[9] Die Zwischen- und Fernhändler interessierten sich für das Handelsgut Mensch mit messbaren Eigenschaften. Kategorien wie Herkunft, Alter, Geschlecht oder Belastbarkeit waren Preisfestsetzungskriterien. Die Überführung in den Bürgerhaushalt zwecks Eigenbedarfs suggeriert den Anfangsverdacht einer größeren Subjektivität. Naheliegender Anhaltspunkt zur Überprüfung dieser These ist die Notariatsurkundenanalyse im Cluster. Hier konnte Juliane Schied über die Methodik der Historischen Semantik eine Fallanalyse starten, in der sie notarielle Beglaubigungen des venezianischen Notars Bernardo de Rodulfis aus den 1390er Jahren als Vergleichsobjekte heranzog für uneditierte Kaufurkunden aus dem Staatsarchiv Venedig, die von verschiedenen Notaren zwischen 1363 und 1469 abgefasst wurden.[10] Grundsätzlich gehörten zum Agens sowohl der Vorbesitzer als auch dessen Erbe.[11] Eine weitere Eigenart bestand darin, dass nur der Verkäufer im Rechtsakt aufgeführt wurde. Zeugen und Notar lieferten mit ihrer Unterschrift die Rechtsgültigkeit der Übertragung. Der Zusatz presente[12] lässt jedoch die Schlussfolgerung zu, dass bei der rechtskräftigen Unterzeichnung der Vereinbarungen gelegentlich der Käufer eben präsent war. Ohnehin war inhaltlich ausschließlich die Übertragung der Rechte und Ansprüche an dem Sklaven oder an der Sklavin an den neuen Eigentümer geregelt, wie nachfolgender Auszug verdeutlicht:
„Promittens insuper cum meis heredibus et successoribus vobis et vestris heredibus et sucessoribus eun dem sclavum/eandem sclavam ab omni homine, persona, comuni, colegio, societate, universitate que vos impedire aut molestare voluerit, coram lege vel extra legem, deffendere, auctorizare, guarentare, disbrigare meis propriis laboribus, sumptibus et expensis.“[13]
In den Kaufurkunden kann aufzeigt werden, dass ohne Ausnahme die Anfangs- und Schlussformel (…plenissimam…pro anima et corpore…) enthalten sind. Die vollständige Verfügungsgewalt über den Sklaven oder die Sklavin war in deren Formulierung eine sakrosankte Passage, wohingegen die Spezifizierungen dieser Verfügungsgewalt in der Semantik eine sprachliche Spannweite vorweisen konnten, offenbar dem Individuum oder dem Einzelfall geschuldet.Interessant war in der Schlussformel mit der Passage pro anima et corpore iudicandi das Rechtsverständnis, wonach der versklavte Mensch keiner Gerichtsbarkeit unterstellt war. Letztlich konnte der neue Besitzer auch die volle Verfügungsgewalt über die Verwendung in Anspruch nehmen (quicquid vobis placuerit faciendi, nemine contradicente).[14]
1386 … Der Senat macht Unterschiede bei den Unfreien!
Die einheitlichen Formalien in der Schriftkultur bezüglich des menschlichen Besitzstandes spiegelten sich nicht realiter in der Wahrnehmung der venezianischen Behörden wider. Die capisestieri, venezianische Liktoren, achteten mit Argusaugen darüber, dass Menschen aus den balkanischen Gebieten nördlich von Korfu weder weiterveräußert noch aus Venedig verschifft werden durften ohne Registrierung oder ausdrückliche Genehmigung. Auch Zugereiste mussten sich wenige Tage nach ihrer Ankunft bei den capisestieri melden zur amtlichen Kennung. Seit 1386 wurden diesen unfreien Migranten explizit nicht mehr als Sklaven bezeichnet, sondern als anime[15]. In einem Senatsbeschluss des gleichen Jahres wurde detailliert über die Bedingungen zur Einfuhr sogenannter anime über die Adria ein Beschluss gefasst. Offenbar sollten auf venezianischem Hoheitsgebiet – und Korfu gehörte im Spätmittelalter zu den Eintrittssphären der Seerepublik – Sonderbestimmungen die Arbeits- und Lebensbedingungen der Migranten verbessern. Als Gegenleistung für diese Sonderbehandlung mussten die anime für die Überfahrt eben nach Venedig ein Entgelt zahlen, dass sie für eine festgesetzte Dienstzeit vor Ort als Hausangestellte abarbeiten konnten. Gab es Gründe für diese Differenzierung? Susan Mosher Stuard vertrat, wenn auch nur auf Seerepublik Ragusa beschränkt, die These, wonach die Transformation der Sklaverei in die zeitlich befristete Vertragsarbeit keine wesentlichen Verbesserungen brachte, wohingegen der kroatische Historiker Neven Budak einen Ausgangspunkt für das stärkere Bewusstsein der zumindest moralischen Verwerflichkeit der Sklaverei sah.[16] Und in der Tat gehörte die Sklaverei zu den wenig harmonischen Realitäten bei den Renaissancegelehrten. Die mit der Renaissance einhergehende Aristoteles-Rezeption warf auch auf die Sklaverei Schatten. Der Gelehrte Thomas von Aquin argumentierte scholastisch an der naturrechtlichen Begründung des Sklavenstatus. Auch die renovatio des römischen Rechts an den italienischen Universitäten konnte dieses erweiterte Naturgesetz nicht verdrängen, zumal mit der Renaissance auch das Vordringen des öffentlichen Notariats verbunden war.[17] Tagespolitische Ereignisse waren jedoch ganz pragmatische Förderer dieser venezianischen Beschlussfassung von 1386. Im Frieden von Zadar 1358 verlor die Markusrepublik ihre dalmatinischen Besitzungen, Nordkroatien von der Kvarner-Bucht bis zur Bucht von Kotor sowie Küstengebiete im heutigen Albanien. Absatzmärkte, aber auch Brückenköpfe in das balkanische Festland waren verloren. Nachdem der für den Dogen wichtige Handelspartner Split aufgrund der angespannten Lage um billige Arbeitskräfte ein Ausfuhrverbot für Sklaven verfasste, zog die Serenissima nach, als es 1386 unmissverständlich im Senatsbeschluss hieß:
„Item cridetur quod aliquis non possit cum aliquo navigio de dictis animabusconducere vel conduci facere ad aliquas partes causa vendendi vel alienandi vel aliter dimitendi de animabus predictis contra id quod dictum est supra, nec extrahere de Venetiis modo aliquo, forma vel ingenio.“[18]
Wer nun das statuierte Verkaufsverbot mit Nichtbeachtung torpedierte, der wurde nicht nur mit einer Geldbuße belegt, sondern dem Delinquenten drohten in der Markusstadt zudem noch sechs Monate Gefängnis:
„Pro contrafaciendo predictis vel alicui predictorum sub pena predicta librarum centum et standi sex menses in carzeribus pro qualibet testa in qua fuerit contrafactum.“[19]
Immerhin zeigte sich hier auch ein modernes Rechtsverständnis bei den Senatoren, als sie im apodiktischen Duktus darauf hinwiesen, dass die unrechtmäßig gehandelte Person umgehend freizulassen wäre:
„(…), itaque ille qui vendidit teneatur omnino restituere suos denarios illi vel illis qui emerunt ut est justum, et quod illa anima sit libera et franca sicut debet esse.“[20]
Ähnlich dem Abgabensystem der Seerepublik Ragusa (Verwechslungsgefahr mit dem sizilianischen Ragusa!), deren Zentrum das heutige Dubrovnik bildete, differenziert der venezianische Senat wie folgt bei den Überführungskosten über die Adria:
„(…) pro nabullo et expensis habere debeat ab ipsis ducatos sex pro qualibet testa ab annis X supra; (…) Item ordinetur quod de animabus ab annis X infra pro nabullo et expensis solvere debeant ductos tres, (…).“[21]
Die venezianischen Händler konnten also für jeden anime, der mindestens 10 Jahre war, sechs Dukaten verlangen, die jüngeren anime mussten hingegen nur drei Dukaten für die Überfahrt bezahlen. Diese Fallunterscheidung lässt bereits vermuten, dass ein Großteil dieser anime noch im Kindesalter war. Ein weiterer Grund für die Einführung eines Fahrpreises lag in dem Umstand, dass venezianische Händler zum Beispiel in der Seerepublik Ragusa hohe Exportgebühren für die Ausfuhr zu zahlen hatten und durch diesen Beschluss eine amtlich attestierte Amortisierungsmöglichkeit erhielten. Interessant ist nun, dass offenbar die Moralethik aus der renovatio heraus Widerhall findet im Senatsbeschluss von 1386. Die venezianischen Senatoren formulierten wie folgt:
„Quia sunt multe anime (…) leviter vendite sunt et vendi possent et tractari pro sclavis, quod esset pessime factum et contra Deum et honorem nostril dominii, (…). (…), quod ista venditio facta contra Deum et omnem equitatem destruatur et anichiletur, (…).”[22]
Ob moralische Bedenken das auslösende Moment darstellten, ist vage in der dogmatischen Formulierung, zumindest den daran Beteiligten war die juristische Grauzone bewusst, da man sich moralisch abzusichern versuchte, indem man die klerikalen Diskurse gegen den Handel mit getauften Christen richtete und die wahrhaftig Gläubigen zu freien Menschen erklärte.
Resümee
Es liegt in der Natur der Dinge, dass der Grad der Verschriftlichung mit zunehmender geschäftlicher Obligation korrespondierte. Ergreifung, Weiterveräußerung und Besitznahme für den Besitzstand kennzeichneten den mediterranen Sklavenhandel. Die Transformation vom Beutegut zum Handelsgut brachte für das Patiens keinen Vorteil, aber in den Quellen nehmen nun quantifizierbare Charaktereigenschaften zu hinsichtlich der zweckgebundenen Weiterveräußerung über den Zwischenhändler an den Verkehrsknotenpunkten des spätmittelalterlichen Mittelmeerraumes respektive Schwarzmeerraumes. Nach dem Handelsgut erfolgte dann die Überführung in die unfreie, der juristischen Person fernstehenden Inbesitznahme durch das neue Agens, der mit der notariellen Beglaubigung alle Rechte übertragen bekam. Der unpersönliche Tenor ist dabei bewusst in die Semantik integriert, da in der Renaissance Oberitaliens der Sklave schon bei Thomas von Aquin als instrumentum bezeichnet wird. Ohnehin blieb im Rahmen der renovatio eine generalisierende Rechtsneusetzung bezüglich servitialer Abhängigkeiten aus, vielmehr sah sich das Notariatswesen in der Schaffung kodifizierter Anfangs- und Schlussformeln einer diplomatischen renovatio verpflichtet. Nur so lässt sich erklären, dass in den oberitalienischen Handelsstädten nach Schätzungen bis zu 10 Prozent einen Sklavenstatus besaßen im Spätmittelalter, und dieser Prozentsatz übertraf den Sklavenanteil in Städten der amerikanischen Südstaaten im 19. Jahrhundert.[23] Immerhin erfolgte ob dieses moralischen Diskures eine rechtlich abgestufte Kategorisierung, die in den anime zum Ausdruck kam, tagespolitisch aber auch durch weitere Faktoren begünstig wurde wie die Kompensation an Menschenmaterial durch die Pestwellen des Spätmittelalters oder die bloße Übernahme ostadriatischer Entscheidungen durch den venezianischen Senat. Die Summe aus charakteristischen Textbausteinen, dem Bewusstsein für die semantischen Rollen in den venezianischen Notariatsurkunden und der Senatsbeschluss von 1386 zur Unterscheidung zwischen unfreien Arbeitsmigranten namens anime, die über die Adria kamen und den klassischen Sklaven aus den Einzugsgebieten des Ionischen oder Schwarzen Meeres lassen das venezianische Menschenhandelsystem in eine Schnittstelle geraten, aus der heraus die unfreien Arbeitsmigranten (oft mit bosnischen Wurzeln) zu zeitlichen limitierten Arbeitsknechten wurden, und das Anti-Sklaverei-Potential der Renaissance süffisant umschifft werden konnte.
[1] Vgl. hierzu u.a. The Slaves of St Petersburg im norwegische Fußballmagazin Josimar, abrufbar unter http://www.josimar.no/artikler/the-slaves-of-st-petersburg/3851/.
[2] Vgl. hierzu Haverkamp, Alfred, Die Erneuerung der Sklaverei im Mittelmeerraum während des hohen Mittelalters. Fremdheit, Herkunft und Funktion, in: Hermann-Otto, Elisabeth (Hrsg.), Sklaverei, Knechtschaft, Zwangsarbeit, Untersuchungen zur Sozial-, Rechts- und Kulturgeschichte, Band 1: Unfreie Arbeits- und Lebensverhältnisse von der Antike bis in die Gegenwart, Hildesheim/Zürich/New York S. 130ff. und Schiel, Juliane, Sklavennahme in der Seerepublik Venedig, in: Sauer, Michael u. a. (Hrsg.), Geschichte in Wissenschaft und Unterricht GWU 65, 2014, Heft 9/10, S. 586-599.
[3] Vgl. hierzu Stuard, Susan, Urban Domestic Slavery in Medieval Ragusa, in: Journal of Medieval History 9, 1983, S. 155-171 und Schiel, Juliane, Sklavennahme, a. a. O., S. 588f.
[4] Vgl. hierzu Schiel, Juliane, Sklavennahme, a. a. O., S. 589.
[5] Vgl. hierzu Jucker, Michael, Geraubte Gaben, Verschwiegene Vergangenheit, Hoch- und spätmittelalterliche Geschenk- und Kirchenpolitik mit Objektenj aus Byzanz und Burgund, in: Grünbart, Michael (Hrsg.), Geschenke erhalten die Freundschaft, Gabentausch und Netzwerkpflege im europäischen Mittelalter, Akten des internationalen Kolloqiums Münster, 19.-20. November 2009, Berlin 2011, S. 94.
[6] Vgl. hierzu die Akten des Matteo de Andronicis: ASVe, Cancelleria Inferiore, Notai, b. 6, n. 23 (1423-1429). Im Bestand ASVe, Cancelleria Inferiore – Miscellanea notai diversi, b. 134 bis, n. 29 wird konkret dem Adligen Andrea Barbaro eine Russin zugeführt zum Preis von 70 Golddukaten. Die Aktennotationen können eingesehen werden bei Schiel, Juliane, Sklavennahme, a. a. O., S. 590.
[7] Vgl. hierzu Dorini, Umberto/Bertelé, Tommaso (Hrsg.), Il libro dei conti Giacomo Badoer, Constantinopoli 1436-1440, Rom 1956, S. 272.
[8] Vgl. hierzu Schiel, Juliane, Sklavennahme, a. a. O., S. 590.
[9] Vgl. hierzu Schiel, Juliane, Sklavennahme, a. a. O., S. 591.
[10] Vgl. hierzu Schiel, Juliane, Sklavennahme, a. a. O., S. 593.
[11] Vgl. hierzu Schiel, Juliane, Sklavennahme, a. a. O., S. 593.
[12] Vgl. hierzu den Bestand ASVe, Canc. Inf., Misc., b. 134 bis, n. 44 (6-11-1469).
[13] Vgl. hierzu Schiel, Juliane, Sklavennahme, a. a. O., S. 594.
[14] Vgl. hierzu Schiel, Juliane, Sklavennahme, a. a. O., S. 595.
[15] Vgl. hierzu zur Begrifflichkeit Prinzing,, Günter, Zu einigen speziellen „Sklaven“-Belegen im Geschichtswerk des des Byzantiners Ioannes Skylitzes, in: Bellen, Heinz/Heinen, Heinz (Hrsg.), Fünfzig Jahre Forschungen zur antiken Sklaverei an der Mainzer Akademie, 1950-2000, Stuttgart 2001, S. 353-362.
[16] Vgl. hierzu Stuard, Susan Mosher, Urban Domestic Slavery in Medieval Ragusa, in: Journal of Medieval History 9 (1983), 155-171 und den Anmerkungsapparat von Juliane Schiel bezüglich des Historikers Neven Budak, in: schiel, Juliane, Südost-Forschungen?
[17] Vgl. hierzu Haverkamp, Alfred, Die Erneuerung der Sklaverei, a. a. O., S. 136.
[18] Vgl. hierzu den Bestand ASVe, Capitolare de magistrato, capitum sexteriorum, fol. 25; Signori di Notte al Civil, b. 1, Capitulary A, fol. 23r-24v (22-11-1386).
[19] Vgl. hierzu den Bestand ASVe, Capitolare de magistrato, capitum sexteriorum, fol. 25; Signori di Notte al Civil, b. 1, Capitulary A, fol. 23r-24v (22-11-1386).
[20] Vgl. hierzu den Bestand ASVe, Capitolare de magistrato, capitum sexteriorum, fol. 25; Signori di Notte al Civil, b. 1, Capitulary A, fol. 23r-24v (22-11-1386).
[21] Vgl. hierzu den Bestand ASVe, Capitolare de magistrato, capitum sexteriorum, fol. 25; Signori di Notte al Civil, b. 1, Capitulary A, fol. 23r-24v (22-11-1386).
[22] Vgl. hierzu den Bestand ASVe, Capitolare de magistrato, capitum sexteriorum, fol. 25; Signori di Notte al Civil, b. 1, Capitulary A, fol. 23r-24v (22-11-1386).
[23] Vgl. hierzu Haverkamp, Alfred, Die Erneuerung der Sklaverei, a. a. O., S. 139.
Spätantike Grabbeigaben als Indikatoren für eine interkulturelle Kommunikation
Inhaltsverzeichnis
Ein Gräberfeld … Antworten oder Fragen für den Archäologen?
Die Männergräber von Gültlingen … Eine Bestandsaufnahme zum Start
Die Grabbeigabe … Ein Gradmesser für den kulturellen Austausch in der Spätantike?
Mit dem Goldhelm nach Byzanz. Und andernorts?
Die Goldgriffspatha … Statussymbol einer alamannischen Kriegerkaste in der Spätantike
Versuche konkreter Datierungen
Neue Gräber braucht das Land … Eine Grabrede mit Ausblick
Anhang
Quellen und Literatur
Zugaben
I. Ein Gräberfeld … Antworten oder Fragen für den Archäologen?
Wenn eine Ausgrabung zum Erfolg führt, dann ist es mit einer Reputation der daran Beteiligten verbunden. Werden die Fundmaterialien über die Grenzen hinaus in der Fachwelt als Maßstabsvorgabe für Kategorisierungen und dergleichen genommen, dann ist der Archäologe in den Zitaten der Fachwelt unsterblich. Hier steht ein Gräberfeld nicht außen vor. Denken wir hier nur an Viktor Sarianidi und den Goldschatz von Baktrien. Der Geburtsfehler der Männergräber von Gültlingen, die 1889 und 1901 entdeckt wurden, lag in dem unprofessionellen Grabaushub. Bis heute kann nicht mit endgültiger Sicherheit die Vollständigkeit der vorliegenden Grabbeigaben gewährleistet sein. Es geht in dieser Arbeit aber um die vorliegenden Utensilien, und hier ragen natürlich die kunsthandwerklich schönen Goldspathen und der Goldhelm heraus, die in der Ausarbeitung einen besonderen Stellenwert erhalten werden. Darüber hinaus wird eine Spurensuche zu den Wurzeln dieser exponierten Grabbeigaben vollzogen werden und Vergleichsausgrabungsgegenstände zur geographischen und zeitlichen Datierung herangezogen. Ob dann Fragen beantwortet werden nach Ursprung und Vertrieb dieser Grabutensilien, bleibt abzuwarten. Aber die Bezüge zu überregionalen Interaktionen sollen herausgestellt werden, damit die Grabbeigaben als solche wie ein Spiegelbild kultureller Interaktionen interpretiert werden können. Im vorliegenden Fall gilt es damit ein Brückenschlag zu finden zum mediterranen Raum oder Diskursthemen zu gewichten, nicht ohne auf eine eigene Meinung zu verzichten.
II. Die Männergräber von Gültlingen … Eine Bestandsaufnahme zum Start
1889 und 1901 wurden im Einzugsgebiet der Gemeinde Gültlingen im Landkreis Calw in Baden-Württemberg zwei Männergräber auf dem Gräberfeld Flonheim-Gültlingen entdeckt, deren Inventare – trotz unsachgemäßer Bergung – in Ausstattung und Interpretation für den spätantiken Besiedlungsraum am Schwarzwaldrand und für die Stufentypisierung des frühmittelalterlichen Archäologen Joachim Werner von tragender Bedeutung wurden.[1] Ein erstes Männergrab wurde 1889 in Gültlingen in einer Tiefe von ungefähr 3 Metern entdeckt. Als herausragende Grabbeigabe kann dabei die Goldgriffspatha angesehen werden, einem zweiseitigen Hiebschwert mit Goldblechüberzug des Griffes (Abb. 1).[2] Weder der Knauf noch die Knaufstange der Spatha blieben erhalten, und detailgetreue Rekonstruktionen wären auch nicht möglich gewesen, da die Spathen nicht über Charakteristika hinsichtlich der Knaufform verfügten. Das Griffmaterial konnte sich – da organischer Natur – nicht halten. Auch die Goldblechverkleidung lässt keine konkreten Aussagen diesbezüglich zu. Lediglich die damalige ovale Querschnittsform des unbearbeiteten Goldbleches kann als Anhaltspunkt genommen werden. Dieses Charakteristikum ist aber keine Gewähr für Sattelfestigkeit.
Mit größerer Gewissheit lässt sich auf Grundlage einer spektralanalytischen Untersuchung die Goldmaterialherkunft formulieren, und hier wird Waschgold aus dem Oberrhein vermutet.[3] Die Möglichkeit muss jedoch Berücksichtigung finden, wonach das Waschgold ursprünglich aus anderen Regionen kommt, da durch den Rheinfluss das Waschgold bis in oberrheinische Gefilde wandern konnte. Die fünf Wülste zur Goldblechunterteilung sind jeweils mit Punkten ausgeschmückt. Ob die Klinge damasziert war, konnte in Methode radiologisch nicht nachgewiesen werden, allerdings scheinen der Grad des Erhaltungszustands und die bedingte Nachweisbarkeit zu korrelieren. Hintergrund dieser Annahme ist der für die Spatha von 1901 existierende dreibahnige Winkeldamast.[4] Das Scheidenmundblech ist aus Silber und verfügt über ein nielliertes[5] Grätenmuster. Es ist nicht umschließend. Von hohem handwerklichem Verständnis zeugen die zwei noch existierenden Scheidenziernieten, bei denen die Nietstifte rechtwinklig umgeschlagen sind. Da die Nieten durch das Scheidenholz geschlagen und im Innern umgebogen wurden, konnte die Zusammenführung der beiden Scheidenhälften nach praktikablem Maßstab erst im Anschluss erfolgt sein. Auch von filigranem Kunsthandwerk durchsetzt, das silberne Ortband hält die beiden Holzscheidehälften zusammen. Das obere Ende des Ortbandes ist vergoldet, am unteren Ende ist es mit einer silbernen Zwinge versehen. Erwähnenswert ist dabei der eiserne Knopf, von Wilfried Menghin, einem Schüler des Archäologietitanen Joachim Werner, als Stoßknopf bezeichnet.[6] Gegenwärtig als Alleinstellungsmerkmal in den zugänglichen Spathensammlungen anzutreffen ist die Verarbeitung eines vorderen Bleches und eines hinteren Blechstreifens, zumindest nachgewiesen und in Rekonstruktion bei Dieter Quast anzuschauen.[7] Die Riemenzüge der Scheide sind bronzevergoldet und mit runden Almandinen besetzt. Zudem verfügen sie über Silberleisten und waagerechte Silberblechstreifen.
Als erwähnenswert sind noch mit einer Schnalle, einem silbergefassten Almandin, Keramik und einer Steinfigur weitere Grabbeigaben von 1889 zu nennen. Die vergoldete Silberschnalle verfügt mit einem langen, schmalen Dorn über ein Charakteristikum, passend zur Childerichzeit. Die feinen Punzverzierungen am Schnallenbügel erinnern an spätrömisches Kunsthandwerk. Ob die Schnalle in Kopie produziert oder mit byzantinischer Provienence ausgestattet, bleibt unklar. Zumindest als weiteres Indiz für den byzantinischen Brückenschlag brauchbar: Der Beschlag mit einem tiefen Kerbschnittmuster besitzt eine provinzialrömische Note. Hier kann das endende fünfte Jahrhundert als Datierung angesetzt werden.[8] Schwierig und einzigartig zugleich, doch der Almandin von 1889 kann als maßstäbliches Datierungsmittel nicht zu Rate gezogen werden, da die Anzahl der Vergleichsstücke keine signifikanten Schlussfolgerungen zulässt. Die Steinfigur ist sogar ein Unikat für das alamannische Einzugsgebiet, vermutlich ein Überbleibsel aus einem römischen Haushalt in Gültlingen. Das Bronzeglockenfragment ist für die Merowingerzeit nicht unüblich, aber auch kein Stück Seltenheitswert und schon in der römischen Kaiserzeit verwendet, daher kann auch hier keine Datierung vorgenommen werden.[9]
Das Grabinventar des 1901 entdeckten Fürstengrabes, auch Helmgrab genannt, war von reichlicher Ausstattung, denn neben der Goldgriffspatha waren dem Bestatteten ein Spangenhelm, ein ornamentierter Gürtel mit Sepiolithgürtelschnalle, eine kleine Glasschale und ein Taschenverschluss beigelegt. Hinzu kamen eine Lanze, ein eiserner Schild und eine Wurfaxt als fürstliche Statussymbole, wenigstens aber als Rangabzeichen von Verdienten im Heergefolge des Fürsten (Abb. 3). Ähnlich der Spatha von 1889 werden nun einige Charakteristika für den Helm aufgelistet, um der punktuellen Bestandsaufnahme Genüge zu tun. Der Helm (Abb. 4) ist der Typisierung nach Baldenheim zugehörig[10], mit Kupferspangen versehen und mit Eisenplatten vernietet. Die Helmform ist halbrund, versehen mit sechs vergoldeten Kupferspangen, einer Scheitelplatte mit einem Zimierstift und einer Zimierhülse. Im Aufbau als Ausartung gegenüber anderen Vertretern angesehen oder als Indiz für eine in Professionalität geringe Ausbesserungstechnik interpretiert, ein weiteres Nietloch ist bei jeder Kupferspange gesetzt. Zumindest ist es für ein Alleinstellungsmerkmal im Helmbestand der Spätantike dienlich, so wie die am Helm befindlichen Haarreste.
Das Stirnband ist ausvergoldetem Kupferblech (Abb. 5). Die Wangenplatten sind aus mit vergoldetem Kupferblech verkleideten Eisenplatten. Die Spangen verfügen über im Muster verschiedenartige Perl- und Hakenpunzen, allesamt blattvergoldet.
III. Die Grabbeigaben … Ein Gradmesser für den kulturellen Austausch in der Spätantike?
III.I. Mit dem Goldhelm nach Byzanz. Und andernorts?
Die Diskurse über die Herkunft der Spangenhelme beantworten bereits die Frage nach dem Gradmesser, zumindest in der Existenz. Die Ausprägung und die eindeutige Zuordnung sind die fachlichen Unsicherheitsfaktoren, also das belastend Apodiktische in der Archäologie. Die Helme vom Typ Baldenheim werden unisono in die Merowingerzeit eingeordnet. Bereits 1903 gab es erste Hinweise in der Fachliteratur, die eine Verbindung von Spangenhelm und orientalischer Helmform sahen, aber erst mit Joachim Werner erfolgte 1935 eine fundierte Deutung in Richtung Byzanz oder Norditalien als Produktionsstätten der kupfernen Spangenhelme. Werner konnte durch die Vorlage mesopotamischer Helmurformen die Verbindung zum Typ Baldenheim aufzeigen. In den byzantinischen Werkstätten liegt demnach die patriam originis. Nach weiteren Helmfunden aus dem Einzugsgebiet der Byzantiner wird heute allgemein anerkannt, dass der byzantinische Ursprung der Spangenhelme vom Typ Baldenheim als archimedischer Punkt im Schlussfolgern zulässig ist.[11] Vorstellbar ist, dass bei dieser Helmart Gastgeschenke, höhere Handelsgüter oder der Beutetausch die Ursachen bilden für das Vorhandensein der Helme nach Typ Baldenheim mit byzantinischen Produktionswurzeln im merowingischen Einflussgebiet. Schauen wir uns doch einfach die Argumente für eine byzantinische Anatomie an zur Verstärkung des interkulturellen Austausches.
Funde im libyschen Leptis magna oder im dalmatinischen Narona lassen erkennen, dass die „Baldenheimer Vorfahren“ auf byzantinischem Hoheitsgebiet hergestellt wurden oder wenigstens in dessen unmittelbarer Sphäre. Auch die Stirnbänder können zur Brückenbildung herangezogen werden, da Werkstättengleichheit oder –typus vorliegen könnten. Für einen im burgundischen Chalon aufgefundenen Helm kann eine Beziehung zu einem Helm aus dem mazedonischen Heraclea Lyncestis hergestellt werden und zwar genau über die matrizenverzierten Stirnbänder.[12] Eine Verstärkung der Interkulturen und der großarealen, konvergierenden Kunsthandwerkstätten finden sich in zwei byzantinischen Armbändern. Zum einen besitzt ein ägyptisches Armband einen bandförmigen Mittelteil, der matrizenverziert ist und eine Ähnlichkeit zum Helm aus dem kroatischen St. Vid aufweist, so wie ein zweites aus Latakaia in Syrien stammendes Armband mit einem matrizenverzierten Mittelteil (Abb. 6). Auch die Abbildung auf einem Silberteller aus Verona ist
vielversprechend, denn der dort abgebildete byzantinische Archon trägt nach Meinung der Fachwissenschaftler einen Helm vom Baldenheimer Typus, mit seitlichen Spangen versehen und in die Übergangszeit von der Spätantike zum Frühmittelalter datiert.[13] Das byzantinische Militär trug – zumindest in exponierter Stellung – den Spangenhelm vom Baldenheimer Typus.
Kann eine derartige Verbindung auch zu den Ostgoten geknüpft werden? Geographisch ist diese Verbindung theoretisch erfüllt, denn die Ostgoten von Theoderich über Totila bis Teja lagen in direkter Nachbarschaft zu den Burgundern und Alamannen. Darüber hinaus gab es indirekt über die militärischen Konflikte und Allianzen zu den Byzantinern mit praktischer Lebensnähe den zwingenden Austausch. Und spätestens nach der Schlacht am Milchberg 552 n. Chr. wurden auf Betreiben Justinians Ravenna und Rom formell Konstantinopel unterstellt. Kunsthandwerklich kann dieser Austausch konkretisiert, sogar auf mögliche italienische Produktionsstätten hin argumentiert werden. Und hierfür tragen nach einem Aufsatz des Archäologieurgesteins Joachim Werner Ravennater Sarkophage, u. a. Münzbilder des Ostgoten Totila oder Bügelfibeln und Münzen nördlich der Alpen – und damit ein direkter Bezug zu Gültlingen – Verantwortung.[14] Die Ravennater Sarkophage sind lediglich ein praktischer Beleg für die Übernahme dieser Kunsthandwerke, da die dort vorliegenden Stirnbänder keinen lokalen Beschränkungen unterstanden, sondern gängiges und überregionales Kunsthandwerk im mediterranen Raum darstellten.[15]
Von wenig überzeugender Argumentationskraft scheinen auch die Münzbilder der ostgotischen patricii Theodahat (534 – 536) (Abb. 7) und Totila (542 – 552) (Abb. 8) zu sein, da deren Helmformen den Spangenhelmen ähneln. Allerdings ist aus Diskursen auch die Interpretation als Krone herauszuhören und damit zulässig.[16] Da Verbindungen zur Bügelkrone, dem Kamelaukion möglich sind, ist eine kategorische Trennung von Krone und Helm lediglich dogmatisch und damit einschränkend. Dieser Pfad wird hier nicht weiter beschritten. Der Erkenntnispfad über die Kupfermünzen des Theodahat bleibt steinig. Der Nackenschutz und die Wangenklappen fehlen unwiderruflich auf den Münzbildern, zumindest liegt keine klare Erkennung vor. Und das bei diesen Helmcharakteristika? Nein, denn vielmehr wird es sich hier um eine Krone handeln nach byzantinischem Muster, da die zeitgenössischen Kaiser in Konstantinopel ebenfalls in diesem Typus verbildlicht waren. Theodahat wird sicher keine Abneigungen gehegt haben nach Anblick dieser bildlichen Parallelen, zumal er – wenigstens indirekt – über seine Förderin Amalasuntha, Tochter Theoderichs des Großen, in diplomatischem Kontakt zu Konstantinopel stand. Auch hier bleibt das Fazit, dass italienische Produktionsstätten nicht zwingend über die Münzen abgeleitet werden können. Sie führen nicht zum Ziel. Aber vielmehr scheint das gesamte Mittelmeergebiet in der Spätantike bezüglich des Warenaustausches und der kulturellen Ausrichtung nicht an der byzantinischen Hausmacht in Vorbeigang oder fatalistischer Konkurrenz gelebt zu haben. Die zahlreichen Militärinterventionen der Oströmer während der ostgotischen Agonie – u. a. durch den oströmischen General Belisar – zeigen in der Spätantike ein byzantinisches Verständnis von Schutzmacht. Und dieses Verständnis wurde vom patricius der Ostgoten kopiert. Schon die Quantität der Helmfunde spricht gegen eine einheimische Produktion. Und das gilt in Weitergabe für das alamannische Einzugsgebiet, also auch für Gültlingen. Wanderarbeiter kommen nur theoretisch im merowingischen Einzugsgebiet als Produzenten vor Ort in Frage, aber das Ausmaß der Spezialisierung lässt diese Berücksichtigung praktisch nicht zu. Auch hätten die Produktionsstätten im alpinen Vorland durch eine Weitervererbung und –entwicklung in der Produktion Nachfolgemodelle angeboten für die ohnehin handverlesene Abnehmerklientel. Weder Belege noch Funde können für die lokale Produktion dieser Helme verarbeitet werden. Die byzantinischen Werkstätten sind naheliegend als Verortung des Baldenheimer Typus anzusehen. Warum nun byzantinische Helme auf germanischem Boden vorzufinden sind, lässt sich in toto nicht erklären. Sicher ist, dass die Träger dieser Helme sozial höher gestellte Personen waren und in diesen Helmen eine Schutzfunktion, ein taktisches Orientierungszeichen oder einfach nur eine Herrschaftsinsignie zu suchen sind.
III.II. Die Goldgriffspatha geht auf Reisen … Statussymbol einer Kriegerkaste in der Spätantike
Unabhängig von den Produktionsstätten, der Inhaber einer Goldgriffspatha gehört einer verdienten Kriegerkaste an, steht in der Militärhierarchie auf honoriger Plattform oder identifizieren den Träger – wie einst die Liktoren mit den Fasces – als Amtsperson im jeweiligen Wirkungskreis. Bezogen auf diese Thematik, können die Spathen facettenreich interpretiert werden als Modeaccessoire des Hochadels in der Spätantike, als Insignie hochrangiger Militärs oder als Zeichen politischer Zweckbündnisse zwischen Alamannen, Franken und Ostgoten. Die Spekulationsblase sollte jedoch verringert werden hinsichtlich einer fachlich belastbaren Interpretation. Nicht nur abwegig, sondern auch nicht von der Hand zu weisen, die Schwerter können als ein Abbild von Gefolgschaften gedeutet werden, wie auf Prunkhelmen aus dem skandinavischen Raum ersichtlich.[17] Die bisherigen Spathen sind – schauen wir auf das Rhein-Main-Mündungsgebiet – faktisch verschieden gestaltet und somit – nur auf Grundlage der Quantität der Funde – nicht als Massenware oder zeremonielle Festivitätenbeigabe zu interpretieren. Das Schwert war eine ranghohe Waffe, qualitativ hochwertig und oft mit dem Träger in Personalunion – siehe Arthurs Excalibur. Lokale Produktionsstätten werden in der Fachwissenschaft für die Spathen genehmigt, denn die Schwerter aus den südlicheren Fundorten sind vor der merowingischen Oberhoheit als Grabbeigabe platziert worden. Damit können diese Funde herangezogen werden als punktuelles Spiegelbild späteströmischer, randprovinzialer Militärstruktur. Es ist auch naheliegend, dass im Bereich der Provinz Germania prima Alamannen für ihren römischen Dienst ausgezeichnet wurden und Produktionsstätten im alamannischen Gebiet, die in Wechselwirkung von spätrömischer Kunsthandwerkstradition und östlicher Almandinkunst standen.[18] Horst Böhme hingegen vertritt den Standpunkt, wonach die Helme von mediterraner Herkunft sind wegen der cloisonnierten Schwertgürtelschnallen.[19] Auch die Datierungszeit lässt Schlussfolgerungen zu. Es ist damit weniger die Vergrabungszeit gemeint, vielmehr die zeitliche Zuordnung der Produktion. Grabbeigaben können im Vorfeld über Generationen den Besitzer wechseln. Die Gräber von 1889 und 1901 in Gültlingen werden in die zweite Hälfte des 5. Jahrhunderts datiert. Und damit können fränkische Einflüsse ausgeschlossen werden, denn erst mit der Bekehrungsschlacht bei Zülpich 496 unter dem Salfranken Chlodwig beginnt die nachhaltige Vernichtung oder Assimilation der Alamannen, die sich bis zur Schlacht bei Straßburg 506 hinziehen wird.[20]
III.III. Versuche konkreter Datierungen
Grundsätzlich werden die Männergräber von Gültlingen in die Stufe Flonheim-Gültlingen eingeordnet, also der Zeitspanne von 450 – 510 zugehörig.[21] Die Goldgriffspatha von 1889 gehört in die alamannische Gruppe von Grabbeigaben, die aus den Zeiten des Childerich oder Chlodwig stammen. Hier treten – im Gegensatz zum fränkischen Grabraum – keine cloisonnierten Knäufe und Knaufstangen auf. Die Spatha weist durchaus Parallelen zu anderen Funden auf, denn auch die Spatha aus Rommersheim war – und nur diese – zur Goldblechgrifffestigkeit mit kleinen Nägeln versehen, die sich nur noch im Röntgenbild erkennen lassen. Rommersheim gehört allerdings zur fränkischen Gruppe. Möglich ist, dass in diesen beiden speziellen Fällen die Goldblechverkleidung erst im Bestattungsritus Verwendung fand.[22] Mit relativer Sicherheit kann für einen Großteil der alamannischen Gruppe das Rheinwaschgold als Ausgangsmaterial angenommen werden, zumindest die Funde in Sindelfingen und Pleidelsheim geben nach spektralanalytischen Untersuchungen dahingehend Auskunft. Was bei den Helmen ausgeschlossen werden konnte durch die byzantinischen Wurzeln, kann bei den Spathen im fränkisch-alamannischen Raum angenommen werden: Verfahrensähnliches Kunsthandwerk mit ortsgleichen Rohstoffbezugsquellen. Ob man über das Rheinwaschgold – wenigstens für die Alamanni – auf ein in Bezug und Vertrieb organisiertes Kunsthandwerk in der Spätantike schließen kann, bleibt Spekulation, aber es ist als Indiz zulässig. Der Ausgewogenheit Rechnung getragen, die Spatha aus Entringen –ebenfalls der alamannischen Gruppe zugehörig – besitzt einen auffallend hohen Platingehalt, so dass auch hier ein Goldimport zur Verarbeitung in Erwähnung gezogen werden muss. Oder die Entringer Spatha wurde komplett importiert. Ein Alleinstellungsmerkmal der aufgefundenen Spathen – und so ein erstes Fazit – ist nicht von der Hand zu weisen. Auch die Punktreihenverzierung der Wülste bei der Gültlinger Spatha kommt so nicht vor. Lediglich das Pleidelsheimer Exponat besitzt diese Verzierungen. Die Exponate sind individuell, durchaus mit Parallelen, aber Massenerscheinungen oder werkstättengleiche Produktionsschritte sind nicht charakteristisch für die alamannischen Grabspathen. Ähnlich verhält es sich mit den Mundblechen. Quergeriefte silberne Mundbleche sind alamannisch, wohingegen cloisonnierte Mundbleche im fränkischen Raum auftreten. Aber auch innerhalb der childerichzeitlichen Einstufung – und dort gehört auch Gültlingen hin – sind lediglich an den Mundblechen der Spathen aus Sindelfingen und Igstadt-Erbenheim Nielloverzierungen. Sindelfingen weist allerdings über die Riemenzüge auch zu Gültlingen eine Verbindung auf.[23] Die Scheidenzierniete sind bezüglich der Typisierung klarer bei den Goldgriffspathen. Sie sind grundsätzlich im alamannischen Gebiet anzutreffen, fehlen bei den Franken. Runde (wie Grab 1889) oder nierenförmige Scheidenzierniete liegen vor, wobei in der childerichzeitlichen Gruppe nierenförmige Niete auftreten. Runde Niete gehören in die chlodwigzeitliche Gruppe. Aber auch in der vermeintlich strukturierten Einteilung gibt es einen statistischen Ausreißer, nämlich Pleidelsheim. Die dortige Spatha zeichnet sich durch kerbschnittverziertes Mundblech aus, und diese Ziertechnik ist noch in Nähe zu den childerichzeitlichen Spathen, also Repräsentant einer kunsthandwerklichen Übergangsphase.
Dieser Zugang kann in der Datierung der Meerschaumschnalle aus dem Grab von 1901 weiterhelfen (Abb. 9). Nierenförmige, cloisonnierte Beschläge an Meerschaumschnallen gehören in die Regierungsjahre von Childerich oder Chlodwig, wohingegen das Gültlinger Exemplar eher in die Regierungszeiten von Chlodomer oder Childebert einzuordnen wäre. Die dort vorliegende kästchenförmige Dornbasis besitzt Parallelen zu einer Dornbasis, die aus einem Grabinventar im oberbayerischen Altenerding stammt. Joachim Werner legt diesen Typus – und bei Unterstellung von Zeitgleichheiten über konvergierende Formenkongruenz auch für das Gültlinger Exponat zutreffend – in das beginnende 6. Jahrhundert. Der oströmische Blickwinkel auf der Suche nach den Ursprüngen einzelner Grabinventare erhält noch eine Verstärkung, da das Hauptvorkommen des Minerals Meerschaum im kleinasiatischen Eskişehir liegt, und der Archäologe Volker Bierbrauer verknüpft daher naheliegend diese Schnalle von 1901 mit dem mediterranen Raum. Der Spangenhelm ist also nicht die einzige Grabbeigabe mit byzantinischer Affinität.[24] Wie kann es nun eine tragfähige soziale Zuordnung geben für diese Schnallen? Da die Dornachse stufenförmig eingezogen war und der Schild zwei Almandineinlagen aufwies, deuten sie auf einen repräsentativen Charakter hin. Und er war nicht von einzigartiger Natur, denn diese Gürtelgarnitur kann analog auch in donauländischen und mediterranen Gebieten gefunden werden.[25] Die soziale Schichtung war aber – unabhängig von der topographischen Verbreitung – von exponierter Stellung. Im Gegensatz zu Erzen war schon die Förderung von Meerschaumknollen von aufwendiger Natur. Sepiolith ist weich und von einem Seifenfilm gekennzeichnet, daher wurden die Meerschaumknollen auch mit einer umhüllenden Schutzschicht aus Erdreich aus den Gruben gefördert, um Beschädigungen durch unkontrollierte Austrocknungen zu vermeiden. Anschließend erhielten die Knollen eine schützende Politur vor dem Weitertransport. Diese Dimension lässt stark vermuten, dass nur solide Liquidität zur Käuferschaft gehören konnte. In den Werkstätten wurden dann die Sepiolithrohlinge in Wasser eingelegt. Kandidaten mit stärkerer Konsistenz versanken, weichere Sepiolithbrocken schwammen an der Wasseroberfläche. Sepiolithknollen, die zu spröde waren, zersprangen dabei, durchaus als Qualitätstest anzusehen. Die Dauer des Wasserbades musste der Arbeiter in der Werkstatt nach Gefühl und Erfahrung bestimmen. Von hoher kunsthandwerklicher Potenz musste auch das Zuschneiden der Knollen sein, da sichtbare Mängel ein Qualitätsminimum bedeuteten. Anschließend ging es in die Trockenkammer, und vereinzelte Arbeitsspuren wurden abgefeilt, erneut poliert und getrocknet. Der Höhepunkt der Fertigung war dann das Talgbad, denn so wurde die Polierfähigkeit erhöht. Außerdem musste schon – zumindest nach frühmittelalterlichen Maßstäben – unter werkstofflichen Laborbedingungen gearbeitet werden, da die hohe Saugfähigkeit des Minerals Schmutzpartikel anzog. Die Fertigungsschritte waren offenbar in manufakturähnlichen Vertriebssystemen beheimatet.
Die Datierung der Almandineinlagen in der Gürtelschnalle bestätigt die Zuordnung in die Stufe Flonheim-Gültlingen.[26] Allerdings ist der Diskurs nicht beendet, ob die Gültlinger Almandine als Beschläge eines einschneidigen Messers, der sogenannten Saxscheide, dienten oder wahrscheinlicher als Gürtelhaften der beschlaglosen Meerschaumschnalle zu interpretieren sind. Für letztere Variante spricht, dass im niederösterreichischen Laa an der Thaya oder im serbischen Zmajevo ähnliche Gürtelhaften vorzufinden sind, die ihrerseits eine Typisierungslinie zur Almandineinlage nach Altenerding aufweisen. Der Datierungskreis schließt sich, denn die Dornbasis argumentiert schon mit Oberbayern. Lokale Gemeinsamkeiten können zudem zumindest angesprochen werden, denn der Gültlinger Meerschaumbeschlag und eine Fibel aus dem Grabinventar der „Dame von Schwenningen“ zeigen technische Übereinstimmungen, so dass eine gemeinsame alamannische Werkstättenkultur im Raum steht. Im Diskurs vertritt die Archäologieinstitution Joachim Werner die lediglich durch den Zeitgeist hervorgerufene Gemeinsamkeit in den randbegleitenden Almandinkügelchen, deutet es nicht als Indiz für eine Werkstättengleichheit.
IV. Neue Gräber braucht das Land … Eine Grabrede mit Ausblick
Eine Grabrede hat immer etwas Endgültiges. Das ist in der Archäologie nicht so, denn mit jedem neuen Fund erfolgt eine Spezifikation oder eine Revidierung der Typisierung von Überresten. Nehmen wir die Gültlinger Gräber von 1889 und 1901. Was steht denn nun mit den Grabbeigaben fest? Goldgriffspathen oder Helme vom Baldenheimer Typ waren in Alemannia fester Beigaberitus in Begräbniszeremonien, wie andernorts und hier auch gelistet. Ursprung, Produktionsstätten und deren Vertrieb sind unklar oder können nur durch Indizien oder Grabvergleichsanalysen mit ähnlichem Grabinventar in die Nähe von Wahrscheinlichkeiten gesetzt werden. Die Sicherheit fehlt. Und es ist auch gut! Alleine die Anzahl der bisher entdeckten Goldgriffspathen lässt eine Generalisierung nicht zu. In den Diskursen ist man um Klassifikation auf Grundlage der bisherigen Funde bemüht. Die Einteilung nach fränkischen oder alemannischen Grabräumen, nach cloisonnierten oder silbernen Mundblechen, die Einteilung nach den merowingischen Herrschern Childerich und Chlodwig oder die Aufteilung nach runden und nierenförmigen Scheidenziernähten zeigt den Katalogisierungsdrang der Funde für eine bessere Übersicht und deren Vergleichsmöglichkeiten zur Auffindung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Noch bleiben aber zu viele Fragen. Die Goldgriffspathen in der Spätantike und des Frühen Mittelalters zeigen Individualisierungstendenzen, so dass sie abseits einer Massenproduktion als facettenreiches Statussymbol für eine monetäre Klientel oder für eine soziale Oberschicht standen. Das Helmgrab von 1901 zeigt über die Diskurse einen Weg auf in den mediterranen Raum und vermutet byzantinische Produktionsstätten oder byzantinische Wurzeln. Das ist nicht abwegig, da alamannische Fürsten in der Spätantike im oströmischen Militärdienst tätig waren; und erst mit Clothar I. emanzipierten sich die Merowinger offiziell von der oströmischen Oberhoheit oder von oströmischen Schutzmachtallüren, wie die Ostgoten nur leidlich zu berichten mussten. Nur wirft diese byzantinische Affinität auch Fragen auf, denn die Goldgriffspathen können nicht – zumindest in den aktuellen Diskursen – diese Querverbindungen über Urformen etc. in den mediterranen Schwertstammbaum hinein vorweisen. Helme wurden importiert, aber Schwerter mit teils vermutlichem Rheinwaschgold irgendwo im Hoch- oder Oberrheingebiet, vielleicht auch im Rhein-Main-Mündungsgebiet produziert? Es ist vieles möglich, und die Verarbeitungseigenarten der Grabutensilien zeigen zumindest einen kunsthandwerklichen Austausch über die regionalen Grenzen hinweg. Intensivere Grabanalysen bei neuen und alten Funden verdichten das Netz an Zusammengehörigkeit, an Vertriebsstrukturen in der fränkisch-merowingischen Ära oder über die Grabbeigaben in Alemannia hinsichtlich der Assimilierung der alemannischen Elite in der Spätestantike. Wichtig ist dabei nur, dass nicht von vornherein ein Ausschlussdenken erfolgt bei der Spurensuche über die Grabbeigaben wie in Gültlingen oder andernorts. Da keine nennenswerten mitteleuropäischen Lagerstätten zur Verfügung standen, sind die Benutzung oder die Weiterverarbeitung indirekt Belege für die Existenz von Fernhandelskontakten zwischen Zentraleuropa und dem Mittelmeerraum. Wenigstens die merowingisch-fränkischen Eliten müssen über diesen Austausch mit der mediterranen Kultur in Berührung gekommen sein. Eigentlich war diese Assimilation zwangsläufig, da ohnehin germanische Verbände oder deren Angehörige in den Mittelmeerkulturen zumindest zeitweise assimiliert waren. Selbst eine Archäologiekoryphäe wie Joachim Werner muss mit seiner konträren Zeitgeistargumentation hinsichtlich der Analogien in den Werkstätten auf alemannischem Boden nicht Recht haben, da der Mangel an Funden Festlegungen verbietet. Das spätantike Grab bedarf der Öffnung nach dem Fund. Danach gibt es neue Erkenntnisse. Zu den anderen gefundenen Gräbern von 1905 (Abb. ), 1949 (Abb. ) lassen sich auch noch einige Worte verlieren. Das Grab 1905 bestand aus drei Funden: ein Krug mit Kleeblattmündung, ein Wirtel aus oak-schwarzem Glas und ein Tonwirtel (dieser ist chronologisch aber nicht datierbar). Diese Funde lassen sich allgemein in die Stufe II datieren. Im Grab von 1949 wurden diverse Bügelfibeln, Ohrringe, Ringe, Bronzenadeln, Silberlöffel, Messer und viele weitere Funde entdeckt. Dieses Grab wird insgesamt in das ausgehende 7. Jahrhundert datiert.
V. Anhang
V.I. Literaturverzeichnis
Ament, Fränkische Adelsgräber von Flonheim in Rheinhessen (Berlin 1970).
Bierbrauer, Alamannische Funde der frühen Ostgotenzeit aus Oberitalien, in: G. Kossack/G. Ulbert (Hrsg.) Studien zur vor- und frühgeschichtlichen Archäologie, Festschrift für Joachim Werner zum 65. Geburtstag (München 1974).
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H.W. Böhme, Der Frankenkönig Childerich zwischen Attila und Aetius. Zu den Goldgriffspathen der Merowingerzeit, in: Festschrift für 0.-H. Frey zum 65. Geburtstag. Marburger Studien, Vor- und Frühgeschichte (Marburg 1994).
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[1] J. Werner, Münzdatierte austrasische Grabfunde, in: Germanische Denkmäler der Völkerwanderungszeit 3 (Berlin/Leipzig 1935), S. 30 – 32.
[2] D. Quast, Die merowingerzeitlichen Grabfunde aus Gültlingen (Stadt Wildberg, Kreis Calw) (Stuttgart 1993), S. 21 – 22 (im Folgenden zitiert als: Quast, Gültlingen).
[4] Vgl. zur Veranschaulichung der Oberflächenstruktur ei einem Schwert den Aufruf unter http://www.tf.uni-kiel.de/matwis/amat/iss/kap_b/illustr/ib_3_3.pdf vom 4. November 2017 und A. Williams, The Sword and the Crucible: A History of the metallurgy of European Swords up to the 16th Century (2012), S. 67.
[5] Das Niellieren (lat. nigellum: schwärzlich) gehört zu den farbgebenden Techniken, bei der das Niello-Pulver auf Metall geschmolzen wird für die Farbgebung.
[6] W. Menghin, Das Schwert im frühen Mittelalter. Wissenschaftliche Beibände Anz. Germ. Nationalmuseum 1 (Stuttgart 1983), S. 126.
[14] J. Werner, Neues zur Herkunft der frühmittelalterlichen Spangenhelme vom Baldenheimer Typus, in: Germania 66,2 (1988), S. 521 – 523.
[15] W. Holmqvist, Kunstprobleme der Merowingerzeit (Stockholm 1939), S. 128 – 130.
[16] W. Reinhard, Germanische Helme in westgotischen Münzbildern, in: Jahrbuch Numismatik und Geldgeschichte 2 (1950), S.43 – 45.
[17] H. Steuer, Helm und Ringschwert, Prunkbewaffnung und Rangabzeichen germanischer Krieger. Eine Übersicht, in: Studien zur Sachsenforschung 6 (1987), S. 190 – 192.
[18] K. Böhner, Germanische Schwerter des 5./6. Jahrhunderts. Jahrbuch RGZM 34 (Mainz 1987), S. 413.
[19] H.W. Böhme, Der Frankenkönig Childerich zwischen Attila und Aetius. Zu den Goldgriffspathen der Merowingerzeit, in: Festschrift für 0.-H. Frey zum 65. Geburtstag. Marburger Studien, Vor- und Frühgeschichte 98 (Marburg 1994), S.103 – 105.
[20] H. Steuer, Herrschaft von der Höhe. Vom mobilen Soldatentrupp zur Residenz auf repräsentativen Bergkuppen, in: Archäologisches Landesmuseum Baden-Württemberg (Hrsg.), Die Alamannen (Stuttgart 1997), S. 160.
[21] Vgl. hierzu Steuer, Heiko und Bierbrauer, Volker (Hrsg.), Höhensiedlungen zwischen Antike und Mittelalter von den Ardennen bis zur Adria, Berlin 2008, S. 295.
[24] V. Bierbrauer, Alamannische Funde der frühen Ostgotenzeit aus Oberitalien, in: G. Kossack/G. Ulbert, (Hrsg.), Studien zur vor- und frühgeschichtlichen Archäologie, Festschrift für Joachim Werner zum 65. Geburtstag (Müchen 1974), S.567.
Klösterliche Grundherrschaft Grundlegendes zu Urbarien anhand der Abtei Werden
Inhaltsverzeichnis
Warum eine urbariale Einführung?
Vom Allgemeinen zum Exemplarischen:
Von der Villikation zum Werdener Urbar
Details zum Werdener Urbar A
Fortführende Hebeverzeichnisse
Urbarien … ein Mehrwert für den Archäologen?
Schlussbetrachtungen
Quellen und Literatur
Abbildungsverzeichnis
Warum eine urbariale Einführung?
Die Benediktinerabtei Werden hätte ohne eine ökonomische Grundlage nie die Reputation im Mittelalter erreichen können. Der Klostergründer Liutgar aus Friesland hatte es bei der Klostergründung um 800 an der unteren Ruhr bereits hinsichtlich des Grundbesitzes über Kauf oder Schenkung berücksichtigt, um die Existenzgresundlage eines Klosters gewährleisten zu können. Die mittelalterliche Grundherrschaft nahm sich dieses Grundbesitzes an als archimedischer Punkt für Funktion und Ausbau der mediävalen Wirtschaft. Der Grundherr, hier das Werdener Kloster, übte dabei eine bipartite Grundherrschaft aus, bei der neben eigenbewirtschaftetem Salland Leiheland, Hufe oder Manse genannt, ausgegeben wurde. Eine verwaltungstechnische Notwendigkeit lag nun in der Kodifizierung von Rechten und Abgaben für die jeweiligen Güter. Diese Heberegister werden als Urbare bezeichnet, die in Werden seit dem 9. Jahrhundert vorlagen. Der quellentechnische Wert dieser Abgabenauflistungen liegt in der Strukturierung und Hierarchisierung bei Frondiensten, Hufen und Abhängigen. Daneben erhält der Leser einen Einblick in ein komplexes geographisch-politisches Beziehungsgeflecht. Werden hatte dabei nicht nur engeren Grundbesitz an der unteren Ruhr, sondern Mansen in Friesland, Westfalen und Ostsachsen.
In der Ausarbeitung will ich zunächst Begrifflichkeiten und Zuordnungen hinsichtlich urbarialer Gegebenheiten setzen zur Statuierung eines Orientierungsrahmens, ergänzt um passende Details zur Reichsabtei Werden. Detailreich werden dann die Konkretisierungen der Werdener Urbare A und B, wobei auch Normannen und die karolingische Renaissance ihren Platz beanspruchen werden bezüglich der gegengewichtigen Interpretation zur mündlichen Traditionskultur. Zum Schluss erfolgen Betrachtungen zum Wechselspiel mit der Archäologie, da nicht nur Troja und der Kampfplatz der Varusschlacht als dämpfende Belege hinsichtlich eines produktiven Miteinanders herhalten müssen, sondern ein symbiotisches Potenzial dogmatisch nicht nur unter ferner liefen betrachtet werden kann.
Vom Allgemeinen zum Exemplarischen: Von der Villikation zum Werdener Urbar
Das Urbar ist als Begrifflichkeit dem Lehnswesen zuzuordnen. Es ist eine Auflistung von Besitzrechten eines Lehnengebers und ein Zusammentragen von Pflichtensammlungen der Grundholden. Es sind Verzeichnisse von Liegenschaften und Grundherrschaftsdiensten, vorrangig gegenüber Klöstern oder Villikationen. Die Villikation bedarf dabei einer näheren Erläuterung. Der Begrifflichkeit nach ist es eine Kennzeichnung für eine administrative Einheit, bestehend aus einem Herrenhof und mehreren Bauernstellen, deren Betreiber dem Grundherren Abgaben leisten mussten und auf dem Herrenhof eine bestimmte Menge an Diensten ableisteten. Die Bauern einer Villikation waren Inhaber einer Hofstelle, begrifflich mit „mansus“ versehen. Diese administrative Form musste auch in der Ausprägung mehr als nur eine punktuelle Erscheinung gewesen sein, denn für die agrarische Nachwelt blieb es im Flächenmaß Manse[1] erhalten. Eine Mansenstelle sollte idealiter, nach Abzug der Grundherrschaftsabgaben, den zum (Über-)Leben notwendigen Bedarf der Bauern in einem normalen, von Dürreperioden oder anderen landwirtschaftlichen Unannehmlichkeiten bereinigten Kalenderjahr decken können. Verwaltungstechnisch war die Führung nur durch die Person des Grundherrn problematisch, da das Königsland oder die Besitzungen von namhaften Klöstern oft kein zusammenhängendes Terrain bildeten.[2] Bedingt durch die wenig komfortable Infrastruktur im Mittelalter und die – aus Sicht des Grundherrn – anvisierte gewinnbringende Auslastung der Ackerflächen, erfolgte eine dezentrale Administration. Es wurde eine mehrteilige Sonderform des Villikationssystems eingeführt, bestehend aus dem Grundherrn, dem auf einer Zwischenebene die Meier, auch villici genannt, unterstanden, und schließlich den in einer Villikation unter dem villicus stehenden zusammengefassten abhängigen Bauern. Falls nicht selbst vom Grundherrn bewohnt und bewirtschaftet, übernahm der Meier in Stellvertretung die Aufgaben. In dieser Funktion nahm sogar der Meier durch die Leitung der Hofgerichte unmittelbar an der praktischen Jurisprudenz teil. Auch dort zeigte sich die nicht unerheblich symbiotische Beziehung zwischen dem Grundherrn und dem Meier, denn durch die Gerichtseinnahmen gehörte es zu einer ökonomisierten Hoheitsfunktion. Die Meierschen Tätigkeitsfelder umfassten – und schon in der Landgüterverordnung capitulare de villis vel curtis imperii[3] gibt es diese Auflistungen – unter anderem die Bewirtschaftung des Sallandes und die Überwachung der grundherrschaftlichen Dienste. Weiterhin war der Meier für die
Eintreibung der diversen Abgaben der Bauern seiner Villikation verantwortlich. Allerdings wird ein großer Teil der Grundherrschaften aus nur wenigen abhängigen Höfen bestanden haben, die einem in der sozialen Schichtung entsprechend niedriger stehendem Grundbesitzer, zum Beispiel einem Angehörigen des „niederen Adels“ gehört haben. In diesen Mikro-Villikationen übernahm der Grundherr natürlich selbst die Aufgaben des villicus, die dieser zum Beispiel in einer klösterlichen Grundherrschaft besaß. Ein besonderes Unterscheidungsmerkmal der grundherrschaftlichen Organisationsform der Villikation im Verhältnis zur klassischen Abgabengrundherrschaft sind die Dienste, die von den zur Villikation gehörigen Bauern auf dem unmittelbar zum Fronhof gehörigem Land des Grundherrn, dem sogenannten Salland, zu leisten waren. Ihre Existenz zeigt, dass der Hof der Grundherren innerhalb der Villikation nicht als reine Sammelstelle für Abgaben fungierte, sondern daneben einen eigenen landwirtschaftlichen Betrieb mit Bedarf an Arbeitskräften bildete. Nun aber zurück zum Urbar.
Sprachgeschichtlich stammt das Urbar ab vom Althochdeutschen ur-beran, einer Konstellation aus der Präposition ur und dem Verb beran, wortwörtlich aus dem Althochdeutschen recht anschaulich und treffend mit Ausgebären übersetzt.[4] Die Übersetzung ist anschaulich dahingehend, dass mit dem Urbar stets eine schriftliche Fixierung von Ansprüchen einherging in einer Grundherrschaft. Entweder erfolgte die schriftliche Fixierung nach Sammlung des altersher gebräuchlichen Nießbrauches und der daraus resultierenden Abgabenpflicht oder der Hofmeier verfasste nach Befragung der Ortsansässigen unter Berücksichtigung regionaler Gewohnheiten ein variables Reglement bezüglich der Abgabenpflicht. Und wie sah es nun im Kloster Werden aus? Werden war in der Regierungszeit Karls des Großen zur Reichsabtei erhoben worden. Der Aufstieg dieses Klosters ist mit dem heiligen Liutgar aus Friesland verbunden, der nach den Sachsenkriegen Karls des Großen von Münster aus missionierte und um 800 das Kloster Werden im Grenzland zwischen Franken und Sachsen gründete. Die Stellung des heiligen Liutgar, der später auch Bischof von Münster wurde, war mit einer auctoritas ausgefüllt, die es ihm erlaubte, Werden als Eigenkloster zu führen. Bis 886 führten die Liutgeriden[5] als Äbte in Personalunion mit den episkopalen Sitzen in Münster (bis 849) und Halberstadt (bis 886) die Geschicke des Klosters Werden. Reichsklöster oder Klöster mit einem veritablen abteilichen Stammbaum waren zwingend veranlasst zur Dokumentation ihrer Liegenschaften, schon hinsichtlich des merklichen Stellenwertes in einem Itinerarsystem des Wanderkönigtums. Es ist daher nicht verwunderlich, dass im Zeitalter der Liutgeriden auch Urbarien aus Werden ihren Gang in die Historie der Heberegistererfassung fanden.
Details zum Werdener Urbar A
Das Urbar „A“ aus dem Kloster Werden – in Anlehnung an das Alter des Verzeichnisses so namentlich gehalten – gehört zu den ältesten frühmittelalterlichen Urbarien Deutschlands.[6] Erstellt vor 900, zeichnet es sich schon sprachwissenschaftlich als interessante spätkarolingische Rechts- und Wirtschaftsquelle aus, da neben der lateinischen Verkehrssprache auch das Altsächsische Verwendung findet. Zudem werden erstmals Orte wie Dortmund urkundlich erwähnt („In Throtmanni liber homo Arnold VIII denarios nobis solvit.“)[7]. Auch muss hinsichtlich der Motivlage zum Aufsetzen dieses Urbars in Ergänzung die Möglichkeit eingeräumt werden, dass – losgelöst von reichskirchlichen oder innerabteilichen Diskursen mit dem Konvent – die Normannen Auslöser zur Erstellung dieser Verzeichnisse Verantwortung zeigten. Dass das mit den Normannen aus dem Norden nicht so abwegig erscheint, zeigt die Geschichte des Klosters Prüm. Zu Beginn der achtziger Jahre des 9. Jahrhunderts fielen die Nordmänner regelmäßig über die Nordsee ein flussaufwärts entlang den Flüssen Rhein, Weser, Ems und gingen auf erbeuterisch motivierten Kulturaustausch mit der einheimischen Bevölkerung. Oder die Normänner fielen in das karolingisch-ostfränkische Herrschaftsgebiet ein und hinterließen die nordgermanische Variante der verbrannten Erde. Städte wie Köln oder Bonn wurden niedergebrannt, aber auch Klöster wie eben jenes aus dem rheinland-pfälzischen Prüm zerstört. Es ist gut möglich, dass analog zu dem
Prümer Urbar von 893 in anderen Brudergemeinden – Prüm und Werden gehörten beide dem Benediktinerorden an – auch in Werden nach den Normannenzügen entweder zur Restauration oder zur Vorsorge die Verwaltungsstrukturen mit den erwirtschafteten Erträgen aus der Capitulare de villis schriftlich fixiert worden waren.
Was gibt nun das Urbar A her? Vom Aufbau her besteht das Verzeichnis aus 39 Blättern mit den Maßen 15,5–18,5 × 24 cm, sechslagig in Hirschleder eingebunden. Kleine Zettel, 17 an der Zahl, ergänzen die Blätter mit der Signatur Abbatie prepositure. Die Handschriften sind von verschiedener Natur, die älteste auf um die 900 datiert. Die 39 Blätter sind geordnet nach der Anzahl der jeweils vorhandenen Zeilen, wobei die Zeilenzahl zwischen 24 und 31 schwankt. Diese Spannweite ist auch ursächlich für die verschiedenen Maße der Blätter. In der Fachterminologie werden diese Blätter auch als folia (f.) bezeichnet. Heute werden 40 an der Zahl aufgelistet, da das Deckblatt zunächst keine Berücksichtigung fand. In Fachkreisen ist es nicht unüblich, diesen Folianten einen grundkapitalen Charakter zuzuschreiben hinsichtlich verwaltungstechnischer Obliegenheiten in Franken und in ostkarolingischen Gebieten für die Zeit der ersten Klosteräbte. Der renommierte sächsische
Wirtschaftshistoriker Rudolf Kötzschke titulierte immerhin dieses Urbar A als Grundbuch. Wie bei Urbarien üblich und auch der Tagespraxis geschuldet, das Urbar A in der heutigen Zusammenstellung existierte so nicht. Lediglich die Lagen 1 bis 3 und die Blätter 21, 26 und 14 mit gleichen Zeilen- und Seitenausmaßen gehörten zum Grundhebeverzeichnis des Klosters bei Abfassung der Blätter.[8] In der Lage I darf natürlich die Schenkungsurkunde von 855 nicht fehlen, die Werden zum Großgrundherren katapultierte, als ein gewisser Folker dem Stift Werden Gebiete im Einzugsgebiet der Diozösen Köln und Utrecht vermachte. Die Gebiete waren in der Geographie so weiträumig, dass ripuarisches Recht (lex Ripuaria) und salisches Recht (lex Salica) im juristischen Schriftverkehr im Werdener Konvent Berücksichtigung finden mussten. Bereits Leopold von Ledebur hatte sich im Rahmen seiner
Abhandlung zu den Brukterern 1827 mit dieser Geographie des Werdener Stifts beschäftigt.[9] Weitere Ämter sind mit Lüdinghausen, Albrads oder Sandrads (Lage II) gelistet. Weiterhin werden Traditionen des Hofs Heldringhausen oder die Abgrenzung des Werdener Zehntbezirks aufgeführt. Überregionale Traditionen (in der Wortbedeutung als Übergabe, Besitztum zu interpretieren) sind in der Auflistung von friesischen und westfälischen Einkünften vorhanden (Lage III), die indirekt die geographische Ausdehnung der Werdener Grundherrschaft demonstriert. Auch die Auflistung von Hörigen und Wachszinspflichtigen fehlt nicht (f. 14). Vermutlich erfolgte diese Auflistung, um Rechtssicherheit zu erlangen bei der Vererbbarkeit des Hörigentitels auf die Kinder. Und der Umgang mit den Wachszinspflichtigen – eine abgeschwächte Form der Hörigkeit – sollten schließlich in quantitativer Restriktion durchgeführt werden. Die räumliche Streuung erfährt eine abermalige Stärkung durch die Nennung von Liegenschaften an der Emsmündung (Lage IV, f. 22-25), im Westfälischen (Dülmen, Lage V) und aus dem Rheindelta (Lage VI). Geeignet zum Diskurs ist der Umstand, dass die Lage V dem Inhalt nach die Administration der Osnabrücker Liegenschaften vor den Raubzügen der Normannen widerspiegelt, also – unter der Annahme der Hebung des unmittelbaren Istzustandes – die Lage V entweder in isolierter Fassung noch in der Endphase der Liutgeriden vorlag oder der Inhalt durch Kompilierung fortlaufend den restlichen oder den späteren Lagen beigefügt wurde.[10] Die Lage IV gilt allgemein als „friesische“ Ergänzung zu den ersten drei Lagen, alle wohl um 900 zeitlich datiert. Die Einarbeitung altdeutscher Ausdrücke in die Heberegister spiegelt den dynamischen Prozess wider bei der Erstellung und Kommentierung der grundherrschaftlichen Beziehungen. Auch scheint die Hinzunahme eines Begleitberichtes (raelatio magistri Radwardi) in f. 23v bei der Kompilierung des Urbars A auf den Drang hinzuweisen, die generationenübergreifende Fixierung von Verhältnissen mit der notwendigen Rechtssicherheit und Legitimation durchführen zu wollen. Psychologisch entlarven diese formalen Eigenarten eine Gesellschaft, die über die Symbolik des Mündlichen und die zeremonielle Besitzweitergabe unter Zeugen mit einer hinreichenden auctoritas die schriftliche Fixierung von Gütern, Gerechtsnamen oder Gefällen als mitunter schwierige Alternative zur mündlichen Traditionskultur sieht.
Fortführende Hebeverzeichnisse
Nicht näher in das Hochmittelalter datiert, aber eine Fortführung oder Aktualisierung des Urbars A ist das Hebeverzeichnis Urbar B, fünflagig und in den Größenmaßen 12–15 × 22–24 cm. Das Konvolut aus fünf Lagen, zwei einzelnen Blättern und vier Zetteln listet Besitzungen um Werden, in Friesland und in Westfalen auf. In der Lage I gibt es Aufzeichnungen aus dem Helmstedter Raum, offenbar eine nachträgliche Kodifizierung von Besitz- und Einkunftsrechten. Auf den Folia der ersten Lage sind zudem konkrete Gerechtsame aus dem westfälischen Kamen und Werl, zu Liegenschaften an der unteren Ems sowie im Raum Werden gelistet. Auch ein Herbergsrecht des von der jeweiligen Person unabhängigen Abts ist genannt (f. 8v) oder einzelne friesische Gerechtsame[11] werden aufgeführt (Tuchlieferungen auf f. 8r). Charakteristisch für die Lage II (f. 9-16) ist ein der Lage zugeordnetes Pergamentblatt, auf dem das Heberegister des Hofes Weitmar
bei Bochum geführt ist. Hier lag der Schulzenhof, der als direktes Bindeglied zwischen der Abtei und den ortsansässigen Kossathenstellen[12] diente. Weitere Register sind für Jeinsen im Calenberger Land (f. 12r), für das Helmstedter Umland (f. 10v-11v und f. 16v), für Friesland (f. 14v-15r) oder Westfalen (f. 15v-16r) aufgelistet. Spätestens hier verdeutlicht die Essener Abtei Werden auch die territoriale Begründung für eine Reichsabtei. Zudem konnte bei diesen geographischen Ausprägungen Werden nur über administrative Zweigstellen die Kontrolle über die Mansae gewährleisten und die ordnungsgemäße Überführung der Naturalleistungen in die Werdener Zentrale koordinieren. Die tendenzielle Anreicherung von nacherworbenen Gerechtsamen zeigt sich auch in der Lage III (f. 17-18), denn das ursprüngliche Hebeverzeichnis für Helmstedter Hufen (f. 17v-18v) erhielt eine Ergänzung um Speisegerechtsame von Mönchen an Festtagen (f. 18v). Auch hier liefert das Urbar indirekt Erkenntnisse zur Alltagsgeschichte von Mönchen in Klöstern. Und hier hilft auch eine Querverbindung zu Brüderklöstern weiter, denn Werden verfügt nicht über eine detaillierte Auflistung der Ess- und Trinkkultur seiner Glaubensbrüder im Mittelalter, aber der benediktinische Bruder aus St. Gallen. Dort spricht man unmissverständlich von mehreren Maßen Bier täglich für das Individuum aus der monastischen Gemeinschaft. Met war in den ostrheinischen Gebieten üblich und dem teils wenig qualitativen Wein als Getränk überlegen, dem man oft erst durch den Zusatz von Gewürzen oder Honig etwas abgewinnen konnte.[13] Das Motiv für die Speisegerechtsame in Werden mag die allzu übertriebene Quadragesima gewesen sein, denn in der Fastenordnung war gewöhnlich der Verzicht auf alles Tierische vereinbart. Lediglich Fischspeisen konnten als Eiweißsubstitution herangezogen werden in dieser Zeit.[14] Die Lagen IV (f. 19-20) und V (f. 21-28) enthalten u. a. die Leistungskataloge von (Helmstedter) Schulzen (f. 19r-v; f. 27v-28r)) sowie ein Zentralregister für die friesischen Einkünfte (f. 21e-27r).
Urbarien … ein Mehrwert für den Archäologen?
Können historische und archäologische Quellen ein produktives Zusammenspiel ergeben? Der archimedische Punkt liegt in der Gegenüberstellung von Schriftlichkeit und Nichtschriftlichkeit. Zunächst sind die paläohistorischen (nichtschriftliche Überreste und Traditionen) und historischen Quellen als kulturelles Zeugnis zu interpretieren. Die materialistischen Momentaufnahmen stehen jedoch im Kontrast zur Eigenart der Schrift, die in der Regel Quelle und Bezug nicht zeitgleich wiederspiegelt. Paläohistorische Quellen sind von enaktiver Natur, wohingegen die historischen Quellen aus der Abstraktion und Kodifizierung heraus die primären Erkenntnisse liefern. Die historischen Quellen verweisen damit auf ein größeres Symbolsystem. Darüber hinaus sind historische Quellen semiotisch von größerer Zugänglichkeit. Und in der Regel liefern historische Quellen eine Absichtserklärung, sind von traditionellem Wesen, also intentional. Die paläohistorischen Quellen sind oft stumme Überreste ohne konkrete Botschaft. Die Urbarien erfüllen diese charakteristischen Wesenszüge der schriftlichen Quellen.
Grabfunde können als Fixpunkte dienen für absolut- oder feinchronologische Systematisierungen der jeweiligen Grabinventare. Und die in der schriftlichen Überlieferung fassbaren Personen erhalten durch die zugehörigen Grabfunde ein anschaulicheres Bild. Das ist eine produktive Symbiose. Denken wir hier nur an das bereits 1653 entdeckte Childerichgrab von Tournai[15], bei dem über die Grabbeigaben Rückschlüsse auf politische und wirtschaftliche Beziehungen zu den Byzantinern und Osteuropäern geschlossen werden können oder in der prunkhaften Grabausstattung des Merowingers Childerich eine stärkere Stellung als byzantinischer Föderat erhält als man in den schriftlichen Quellen herauszulesen vermag. Die Archäologie kann hier eine Vorstellung von der sozialen und kulturellen Umwelt auslösen. Grundsätzlich liefert, bei allen Animositäten und Elfenbeinturmcharakteren, die historische Anthropologie ein ausbaufähiges Potenzial zur transdisziplinären Untersuchung bei der Katalogisierung von Überresten. Der Holismus ist der Weg. Ambivalenzen sind keine Belege für das Scheitern transdisziplinärer Ansätze, sondern bereichern nur die Mentalität des Vorschiebens. Das wahre Interesse an Affinitäten oder konsensualen Präsentationen baut Brücken, verfemt nicht. Urbarien können dem Archäologen Datierungshilfen geben (hier die Ersterwähnung Dortmund). Oder das Heberegister gibt Verflechtungen preis, die bei der archäologischen Zuordnung von Überresten Clusterbildungen ermöglichen (hier Werden und Helmstedt). Im Gegenzug erhält der Historiker über katalogisierte Überreste Modifizierungs- oder Verifizierungshilfen hinsichtlich einer Quellenkritik, Anhaltspunkte für den epochendimensionalen Charakter der Auflistungen oder einfach nur ein enaktives Pendant zur Kodifizierung mittelalterlicher Grundherrschaften. Die Symbiose ist fehlerresistenter oder weniger deterministisch, vergrößert die Strukturierungsdimension und vereinfacht überregionale Schlussfolgerungen. Tempus fert rosas.
Schlussbetrachtungen
Urbarien – und die Werdener Heberegister besitzen keine Präeminenz – dienen zur Veranschaulichung und Bestätigung der grundherrschaftlichen Strukturen im Mittelalter. Sie sind ein Spiegelbild der Gerechtsamen von Lehengebern und liefern Belege für den überregionalen Charakter grundherrschaftlicher Verflechtungen. Sie sind zwar von geringem ikonischen Wert, aber auf der Abstraktionsebene verfügen sie über den archimedischen Punkt zur Konstruktion von grundherrschaftlichen Organigrammen. Die mediävalen Wirtschafts- und Sozialhistoriker sind der admirablen Fachabstinenz zuzuordnen, die dem Urbar gegenüber eine hostile Attitüde einnehmen. Zudem können sie ihre Utilität als Belegquelle in der jeweiligen ereignisgeschichtlichen Epoche demonstrieren. Ob karolingische Renaissance, das Spannungsfeld von Kodifizierung und mündlicher Tradierung im Mittelalter oder der dynamische Prozess in den Beständen der Heberegister, immer kann das Urbar für Amplifikationen und Konklusionen Verwendung finden. Zu den regional- oder sozialgeschichtlichen Konkreta gehören dabei debütierende urkundliche Erwähnungen von Orten oder exempli causa die fragmentarischen Gerechtsamen von Reichsabteien oder Mönchsorden. Damit das Urbar nicht der quellentechnischen Exhaustion ausgeliefert ist, gehört dieses Heberegister einer versatilen Quellenkritik ausgesetzt. Die transdisziplinäre Extension gehört dabei in die Betrachtungen integriert, da die historische Anthropologie und die Archäologie als Junktim ein produktives Äquivalent darstellen zur autarken Forschung. Sie müssen nicht eklektisch sein, aber der Wille zur austauschenden Kommunikation muss vorhanden sein. Der holistische Diskurs ist die Zukunft. Medio tutissimus ibis, la voie scientifique ist nach dieser ovidschen Poetik am erklecklichsten.
Bitsch, Roland, Trinken, Getränke, Trunkenheit, in: Essen und Trinken in Mittelalter und Neuzeit, hrsg. v. Bitsch, Irmgard, Ehlert, Trude u. a., Sigmaringen 1987, S. 208f.
Eggert, Manfred, Über archäologische Quellen, in: Fluchtpunkt Geschichte, Archäologie und Geschichtswissenschaft im Dialog, hrsg. v. Burmeister, Stefan und Müller-Scheeßel, Nils, Münster 2010, S. 30ff.
Gerchow, Jan (Hrsg.), Das Jahrtausend der Mönche – Werden 799 – 1803, Esssen/Köln 1999, S. 452f.
Kötzschke, Rudolf, Die Urbare der Abtei Werden a. d. Ruhr: Sammlung von Urbaren und anderen Quellen zur Rheinischen Wirtschaftsgeschichte, Bonn 1906, S. 22ff.
Kötzschke, Rudolf, Studien zur Verwaltungsgeschichte der Großgrundherrschaft Werden an der Ruhr, Leipzig 1901, S.6ff.
Rösener, Werner, Villikation, in: Lexikon des Mittelalters, hg. von der Histor. Kommission bei der bayer. Akademie der Wissenschaften, Bd. München/Zürich, Sp.1694-1695.
Schulze, Hans, Siedlung, Wirtschaft und Verfassung im Mittelalter, Ausgewählte Aufsätze zur Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, Köln 2006, S. 218.
Theuerkauf, Gerhard, Villikation, in: Handwörterbuch zur dt. Rechtsgeschichte, hg. von Erler, Adalbert et al., Berlin 1993, Sp. 919-923.
Ledebur, Leopold, Das Land und Volk der Bructerer, als Versuch einer vergleichenden Geographie der dritten und mittleren Zeit, Berlin 1827, S. 28.
zur Nieden, Andrea, Der Alltag der Mönche, Studien zum Klosterplan von St. Gallen, Hamburg 2008, S. 310f.
[1] Eine Manse ist ein mittelalterliches Flächenmaß und wurde synonym zur im ostrheinischen Teil des Frankenreiches gebräuchlichen Hufe verwendet. Die Manse hatte zu Beginn der Karolingerzeit einen in der Verwendung variablen Charakter, da die Durchschnittswerte im Ausmaß um das Dutzend Hektare schwankte. Die Größe schwankte auch sehr stark, da sie von der Beschaffenheit des Bodens, den Arbeits- und Ertragsbedingungen vor Ort und den vereinbarten Abmachungen abhängig war. Später hatte eine Manse 30 bis 65 Ar und kann als Tagewerk aufgefasst werden. Das heißt, die Fläche konnte mit einem Gespann Ochsen an einem Tag umgepflügt werden. Um der Multiperspektivität Rechnung zu tragen, die Manse wird auch für Hofeinhheiten im Fränkischen Reich als Begrifflichkeit verwendet. Im Rahmen der Karolingischen Renaissance von Karl Martell bis Karl dem Großen erfolgte die Einteilung des landwirtschaftlich nutzbaren Terrains in Mansen, um ein organisatorisches Fundament zur anstehenden Christianisierung/Machterweiterung zu erhalten.
[2] Vgl. hierzu Rösener, Werner, Villikation, in: Lexikon des Mittelalters, hg. von der Histor. Kommission bei der bayer. Akademie der Wissenschaften, Bd. , München/Zürich , Sp.1694-1695 und Theuerkauf, Gerhard, Villikation, in: Handwörterbuch zur dt. Rechtsgeschichte, hg. von Erler, Adalbert et al., Berlin 1993, Sp. 919-923.
[4] Vgl. hierzu das in digitalisierter Form zugängliche, althochdeutsche Wörterbuch von Gerhard Köbler aus dem Jahr 2014, abrufbar unter http://www. koeblergerhard.de/ahdwbhin.html.
[5] Die Liutgeriden sind ein Sammelbegriff für die abteiliche Perrsonalbestellung des Klosters Werden im 9. Jahrhundert mit Auslegung auf die Person des heiligen Liutgers, des Klostergründers. Zu den Liutgeriden gehören Hildegrim I. (809-827), Gerfried (827-839), Thiatgrim (839-840), Altfried (840-849) und Hildegrim II. (849-886). Doch mit Hildegrim II. fiel das Eigenkloster vermehrt in den Zugriff weltlicher Herrscher zwecks Eingliederung in das Itinerarsystem der deutschen Könige, so das vom ostfränkischen König Ludwig dem Jüngeren (876–882) erbetene Privileg über Königsschutz, Immunität und freie Abtswahl. Die Zeit der Werdener Wahläbte und die Zeit als Reichskloster hatten begonnen. Seit dem Wandel zum Reichskloster war die Beziehung zum jeweiligen Erzbischof von Köln eng und dessen Einfluss beträchtlich. Die Stellung einer exemten, nur dem Papst unterstellen Abtei konnte Werden nie erringen.
[6] Vgl. hierzu grundlegend Kötzschke, Rudolf, Die Urbare der Abtei Werden a. d. Ruhr: Sammlung von Urbaren und anderen Quellen zur Rheinischen Wirtschaftsgeschichte, Bonn 1906, S. 22ff.
[7] Der entsprechende Auszug aus dem Werdener Urbar A kann unter https:// www.dortmund.de/ de /leben_in_ dortmund/ stadtportraet/ stadtgeschichte/ anfnge17jahrhundert/ koenigliches / index.html abgerufen werden.
[8] Vgl. hierzu und allgemein zur formalen Analyse des Urbars A den Ausstellungskatalog zum Jahrtausend der Mönche, herausgegeben vom heutigen Direktor des Historischen Museums der Stadt Frankfurt am Main Jan Gerchow: Gerchow, Jan (Hrsg.), Das Jahrtausend der Mönche – Werden 799 – 1803, Esssen/Köln 1999, S. 452f.
[9] Vgl. hierzu v. Ledebur, Leopold, Das Land und Volk der Bructerer, als Versuch einer vergleichenden Geographie der dritten und mittleren Zeit, Berlin 1827, S. 28.
[10] Vgl. hierzu und weiterführend Kötzschke, Rudolf, Studien zur Verwaltungsgeschichte der Großgrundherrschaft Werden an der Ruhr, Leipzig 1901, S.6ff.
[11] Die Gerechtsamen sind Vorrechte oder Rechte, aus denen heraus Taten und Handlungen legitimiert waren. Für den Raum Werden waren im Urbar B sogenannte Waldgerechtsame aufgeführt, bei denen der dem Recht Zugesprochene die unentgeltliche Nutzung des örtlichen Waldes für die Holzgewinnung besaß.
[12] Der Kossathe war Eigentümer einer kleinen Landparzelle, häufig am Dorfrand angesiedelt. Diese Ackereinheiten werden als Kotten bezeichnet, eine heute noch im westfälischen Raum verbreitete Begrifflichkeit für Kleinbauern. Vgl. hierzu Schulze, Hans, Siedlung, Wirtschaft und Verfassung im Mittelalter, Ausgewählte Aufsätze zur Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, Köln 2006, S. 218.
[13] Vgl. hierzu Bitsch, Roland, Trinken, Getränke, Trunkenheit, in: Essen und Trinken in Mittelalter und Neuzeit, hrsg. v. Bitsch, Irmgard, Ehlert, Trude u. a., Sigmaringen 1987, S. 208f.
[14] Vgl. hierzu die Dissertation von zur Nieden, Andrea, Der Alltag der Mönche, Studien zum Klosterplan von St. Gallen, Hamburg 2008, S. 310f.
[15] Vgl. hierzu ausführlich hinsichtlich der Grabbeigaben und des Zusammenspiels zur Archäologie Eggert, Manfred, Über archäologische Quellen, in: Fluchtpunkt Geschichte, Archäologie und Geschichtswissenschaft im Dialog, hrsg. v. Burmeister, Stefan und Müller-Scheeßel, Nils, Münster 2010, S. 30ff.
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1:
Bild 1 und 2:
https://de.wikipedia.org/wiki/Kloster_Werden
abgerufen am 13.01.17
Bild 3:
Landesarchiv NRW, Abteilung Rheinland – Werden, Akten IX a Nr. 1 a, Blatt 27 r.
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