„Requiescat in pace, Du Sohn dieser Stadt“, hieß es am 21. Mai 1888 und in den darauf folgenden Tagen in der westfälischen Stadt Werl. Zur frühen Stunde an jenem besagten 21. Mai des Jahres 1888 verstarb der langjährige Bürgermeister Franz Wilhelm Fickermann nach kurzem Krankenlager durch einen Herzschlag im Kreise der Seinen. Nur wenig später in den frühen Morgenstunden nach dem Dahinscheiden der kommunalpolitischen Institution war es dem Magistrat und den Hinterbliebenen ein Wichtiges, den Nekrolog und
das Requiem für den 24. Mai 1888 noch mit dem Sterbetag publiziert zu haben. Nicht in der Saturierung der niederen Mitteilungsbedürftigkeit dieser Zeitnähe begründet, sondern der Respekt und die Ehrerbietung vor der Lebensleistung des seit 1857 amtierenden Bürgermeisters verpflichteten die Zeitgenossen, Weggefährten und Hinterbliebenen zu zeitnaher Kondolenz abseits jedweden Menetekels des Alltäglichen.
Es sind nun 130 kommunale Jahre in das Land gegangen, seit der oberste Ratsherr in Werl im – ob der drei Achten im Jahr – spöttisch formulierten Dreibrezeljahr 1888 verstarb, nur wenige Wochen nach dem Ableben des Hohenzollern Wilhelm I. im Dreikaiserjahr. Dilettantismus war dem Bürgermeister Fickermann nicht bescheinigt worden im kommunalen Tagesgeschäft, das insbesondere nach der Reichsgründung 1871 von hoher diplomatischer Empathie durchdrungen war. Die Honoratioren der Stadt und der Klerus mit ihren ausgeprägten Netzwerken in der damals inoffiziellen Wallfahrtsstadt Werl pflegten nur mit großer Reserviertheit Kippe zu machen mit dem Werler Liktoren des Bismarck´schen Kulturkampfes, als gerade in der Hochphase der Auseinandersetzungen zwischen dem Reichskanzler Bismarck und der katholischen Minderheit in den siebziger Jahren die polemische Kommunikationskultur wenig prätentiös erschien. Besonders während der Exekutionsphase des Klostergesetzes von 1875 ermöglichte Franz Wilhelm Fickermann mit konstruktivem Dialog die gravitätische Abwicklung der Kapuziner- und Franziskanertradition in Werl, wobei er bereits im Vorfeld dahingehende Ministerialerlasse der zuständigen Amtsregierung in Arnsberg durch Bürgermeister Fickermann umsichtig unter Wahrung des Stadtfriedens auf kommunaler Ebene umsetzte. Denken wir nur an das Verbot der Kollekte zu Beginn des Jahres 1875, als der Bürgermeister dem Guardian des Franziskanerordens die strafbare Relevanz der Fortführung der Kollekte mithilfe von sachlichen Diskurse und pietätsvollen Grundsatzentscheidungen so vermittelte, dass dieser Bruch mit der klerikalen Tradition nicht das politische Klima vergiftete.
Am 17. September 1881 wurde daher ohne Parlieren und in Abkehr jeglicher Magistratszwistigkeiten Franz Wilhelm Fickermann nach zwei zwölfjährigen Amtsperioden einstimmig auf Lebenszeit wiedergewählt. Die private und die öffentliche Person waren reputabel, standen nicht im Fokus der wie im Fetisch zelebrierenden Meinungsfacetten der Abgeordnetenfraktionen. In toto waren die kommunalpolitischen Aktivitäten des Franz Wilhelm Fickermann getragen von einer persönlichen Hingabe. Sein prinzipieller Arbeitseifer war in der Verankerung fanatisch frei von Restriktionen. Lediglich auf diesem Gebiet hätten sich einige Weggefährten eine selbstauferlegte Mäßigung des beliebten Ortsvorstehers erhofft, da gerade in den letzten Lebensmonaten Fickermann im kräftezehrenden Krankenstand ohne persönliche Zurückhaltung seiner Arbeit vollumfänglich nachging. „Magna cum laude!“, so hieß es auch in den Amtsstuben seiner Dienstvorgesetzten. Ob Arnsberg oder in persona der greise Kaiser Wilhelm I. als sein oberster Dienstherr, des sonst im obligatorischen Untertanenmodus operierenden wilhelminischen Behördenapparats standen Spalier angesichts des Fickermannschen Arbeitseifers. Die Verleihung des Kronenorden 4. Klasse und Roten Adlerordens an Franz Wilhelm Fickermann gehörten somit nicht in die unpersönliche Lamettabeigabe ehrenhalber für angehende Pensionäre, sondern waren demonstrative Zeugnisse einer politischen Lebensleistung. Diese elitären wilhelminischen Dankbarkeitsbekundungen symbolisierten noch einmal die Außenwirkung des Lobgepreisten.
Mit Leib und Seele war dieser Kommunalpolitiker seinem Amt verpflichtet, in dem er stets mit selbstloser Aufopferung die Frage nach der Notwendigkeit stellte für die Bedürfnisse der Werler Stadtbevölkerung. Persönliche Eitelkeiten, narzisstisches oder hämisches Gedankengut und Vetternwirtschaft waren ihm fremd. Ob jedoch Franz Wilhelm Fickermann über die Generationen hinweg als politisches Leitbild vereinnahmt werden kann oder die heutige Politikerkamarilla in Distanz zu diesem Urgestein stehen muss, bleibt der Deutungshoheit des Lesers überlassen und sollte in Abhängigkeit zu den jeweiligen Werten und Normen betrachtet werden. Ohne Zweifel gehört aber Fickermann zu den Werler Stadtvätern mit bleibendem Eindruck. Die Amtsberufung auf Lebenszeit ist der archimedische Punkt zur Charakterisierung dieses Mannes, der Stadtgeschichte schrieb. Ein eloquenter Charismatiker eben! Erst viel später sollte eine Nachfolgerin im Amt, Amalie Rohrer, erste Bürgermeisterin der Stadt Werl und Bundesverdienstkreuzträgerin am Bande, Fickermann in Eloquenz und Taktgefühl mindestens ebenbürtig sein. Das ist aber eine andere Werler Rathauspersonalie.
Die Suche nach der Schwerpunktsetzung zur Kommentierung der Königswahl von 1125
Die Kandidatensituation am Vorabend der Königswahl
Der Weg zur Narratio
Auskünfte der Narratio über die Abläufe
Lotharius rex sit!
Quellen- und Literaturverzeichnis
Die Suche nach der Schwerpunktsetzung zur Kommentierung der Königswahl von 1125
Ob die zahlreichen Gegenkönige mit Intermezzoflair oder die Hauptakteure im Interregnum des 13. Jahrhunderts im Altreich fachwissenschaftlich, literarisch oder multiperspektivisch ausreichend gewürdigt werden, bleibt dem Kenner oder Interessierten pro domo überlassen nach stabiler Bibliographie. Der Ludowinger Heinrich Raspe, der Gerulfinger Wilhelm, Richard von Cornwall aus dem Haus Anjou-Plantagenêt oder der Wittelsbacher Ludwig gehören in die Gruppierung der römisch-deutschen Könige, aus der heraus für die Nachwelt wenig mit dem Mittelalter in Verbindung gebracht wurde, alleine schon die flächendeckende Unkenntnis der vorgenannten Titelträger erschwert adäquate Prädikate. Lothar von Supplinburg, Angehöriger des sächsischen Hochadels und Weggefährte Heinrichs V., gehört zu den Königstitelträgern, die mit überschaubarer genealogischer Reputation dem Altreich vorstanden. Ohne Geblütsrecht ausgestattet, abseits einer
elitären kognatischen Abstammung, stand der Wahlkönig im Regulativ der Wahlzeremonie stets zur Disposition in Abhängigkeit tagespolitischer Konstellationen. Schon der Chronist Thietmar von Merseburg brachte diese Diskrepanz zwischen dem Wahlkönig und dem Geblütsanrechtigen zum Ausdruck, indem er die Metapher vom fehlenden vierten Rad am Wagen verwendete („…tuo quartam deesse non sentis rotam?“).[1] Die nachfolgenden Ausführungen wollen exemplarisch an der Königswahl von 1125 die Suprematie wahltaktischer beziehungsweise wahlrechtlicher Aspekte im Altreich verdeutlichen. Und das Referat will mit diesen Ausführungen die erbmonarchischen Tendenzen in ihren Bemühungen auf den verlorenen Posten katapultieren. Die Grundlage für diese Ausführungen bildet unter Verwendung von Zitaten die Narratio de electione Lotharii Saxoniae ducis in regem Romanorum von Wilhelm Wattenbach[2], wobei dem damaligen Mainzer Erzbischof Adalbert und dem Wahlprozedere in Mainz am Beispiel des eher unbekannten Lothar von Supplinburg eine besondere Rolle zukommen werden, um die Präeminenz des Wahlgedankens im Altreich zu veranschaulichen.
2. Die Kandidatensituation am Vorabend der Königswahl
Die Übergabe der Reichsinsignien erfolgte bei den Ottonen und Saliern in der Regel durch die Designation. Die Erbmonarchie drohte zum Fundament des regnum Theutonicum zu werden, und die Fürsten sahen darin den archimedischen Punkt ihres Machtverlustes im Wahlkönigtum. Schon die Wahl Rudolfs von Rheinfelden 1077 als Gegenkönig zum Bußgänger Heinrich zeigte im Designationsverbot für Rudolfs auserwählten Sohn[3] die wahren Absichten der Reichsfürsten: Die Partikulargewalten gewähren dem Gewählten protokollarischen Vorrang als primus inter pares, jedoch mit exekutivem
Schwerpunkt, nicht in legislativer Ausrichtung. Ähnlich verhielt es sich 1125 nach dem Tod des letzten Saliers. Heinrich V. starb, und durchaus passende Kandidaten aus dem Verwandtenkreis wie die staufischen Neffen Friedrich und Konrad waren Kandidaten für die Nachfolge des kinderlosen Saliers Heinrich V., die aber nicht per se durch die Verwandtschaft eine Sonderstellung einnahmen. Auch Leopold von Österreich, Stiefvater der staufischen Neffen, gehörte zum auserwählten Kandidatenkreis. Es gab jedoch keinen verwandtschaftlichen Automatismus. Nicht von minderer Bedeutung war die Übergabe der Reichsinsignien an den potentiellen Nachfolger. Denken wir nur an die
legendäre Szene, in der der Vogelfänger Heinrich vom Franken Konrad im Vorfeld der Königswahl 919 die Reichsinsignien übertragen bekam. Diese Weitergabe fand so in den letzten Lebensmonaten bei Heinrich V. nicht statt. Er übergab sie seiner Frau Mathilde, die die Kleinodien auf der Burg Trifels in der Pfalz aufbewahrte. Erzbischof Adalbert von Mainz konnte offenbar die Witwe Mathilde zur Übergabe der Reichsinsignien bewegen, und der Erzbischof von Mainz durfte sich so in die ansehnliche Aura des Königsmachers begeben.[4] Offenbar war selbst bei der englischen Prinzessin Mathilde wenig Neigung zu spüren, sich allzu offensiv mit familiärem Dünkel in die Kandidatensondierungsphase zu begeben. Dieses Exempel statuierte die fragilen Tendenzen des erbmonarchischen Denkens im personenverbandsstaatlichen Theutonicum, denn – ursprünglich Weggefährte des letzten Saliers – überwarf sich Adalbert mit Heinrich V. und musste aus dem elitären Regierungszirkel austreten. Nun besann er sich seiner legitimen Wahlrechtsobmannfunktion und warf alle rhetorischen Mittel in den Königsmacherring gegen die salische Kandidatenfraktion im Vorfeld des Hoftages zu Mainz 1125.[5] Der rechtliche Primat bei Verhandlungen während der Thronvakanz war seit alters her dem Mainzer zugestanden, denn schon bei Lampert von Hersfeld ist eine Form des episkopalen Geblütsrechts herauszulesen („…archiepiscopus Mogontinus. cui potissimum propter primatum Mogontinae sedis elegendi et consecrandi regis auctoritas deferebatur …”).[6] Und diese administrative Primogenitur in der Königsmacherphase wurde durch den Mainzer Adalbert mit persönlicher Befriedigung ausgereizt.
3. Der Weg zur Narratio
Wie ist nun die Braunschweiger Personalie Lothar Supplinburg quellentechnisch zu gewichten. Nach den Begräbnisfeierlichkeiten in Speyer für den letzten Salier und der dann anschließenden Wahlversammlung in Mainz formierten sich die Wahlmänner der verschiedenen Lager im frühmittelalterlichen Wahlkampfmodus. Die Kaiserchronik eines Hofgeistlichen aus Regensburg ist dabei, schon mit Blick auf die Entstehungszeit Mitte des 12. Jahrhunderts, eine aussagekräftige Quelle.[7] Hier findet keine pathetische Heroisierung des Braunschweigers Lothar von Supplinburg statt, keine manneskräftigen Wahlkampfschlachten werden in gereimten Versen angeboten oder rufschädigende Hetzfraktionen bei den Saliern, Staufern oder den Sachsen propagandistisch im kolorierten Frontalangriffspanorama dargeboten. Lediglich die fürstliche Beratung in Aachen und die Gesandtschaft nach Braunschweig können in der Kaiserchronik quellentechnisch attackiert werden, da sie nirgends Erwähnung finden. Diese Quellenkritik kann aber sine quaestione entkräftet werden, da der Sprachstil und der Tenor des Autors der Kaiserchronik hinsichtlich der Mainzer Wahlversammlung und der Fokussierung auf die Personalien Adalbert und Lothar nicht zur Dramatisierung geeignet sind. Und die Kaiserchronik entstand nur ein Vierteljahrhundert nach dem Ereignis, also noch von Zeitzeugen oder Weggefährten wahrgenommen inmitten der Stauferdynastie.
Lässt die Kaiserchronik mit multiperspektivem Drang noch in der Königswahl 1125 einen Diskursspielraum, so wird jener Königswahlbericht in toto realiter zum Status quo des in Auslegung und Wahrnehmung existierenden Verfassungsrechts des 12. Jahrhunderts, der in der Geschichtsquellenbibliographie unter dem Namen Narratio de electione Lotharii Saxoniae ducis in regem Romanorum Eingang gefunden hat. Die Narratio wurde 1721 im niederösterreichischen
Kloster Göttweig gefunden und auf die Mitte des 12. Jahrhunderts datiert. Vermutlich ist sie aber älteren Datums, denn der detailintensive Wahlablaufbericht bei gleichzeitiger Nichterwähnung der nach 1125 vorliegenden Dispute zwischen Lothar und den Staufern liefert ein Indiz für eine Abschrift, die 1721 im Kloster Göttweig gefunden wurde, das Original konnte demnach kurz nach der Wahlversammlung am 24. August 1125 entstanden sein. Der Fundort in Niederösterreich selbst ist dabei nicht verwunderlich, da der Sachse Lothar mit dem Grafen von Formbach verwandt war, aus dessen Familie wiederum Gründungsväter des Klosters stammten.[8]
4. Auskünfte der Narratio über die Abläufe
Die Einführungsworte der Narratio liefern für das zeitnahe Aufsetzen der Mainzer Wahlabläufe bereits ein Indiz, wenn der Verfasser formuliert:
„In curia nuper Mogontiae celebrata quid dignum memoria gestum fuerit, qualiter electio regis processerit, breviter cartae mandavimus.“[9]
Eine weitere Passage der Narratio zeigt, losgelöst von jeglicher Intensität verwandtschaftlicher Beziehungen oder von guter leumundiger Designation, die grundsätzliche Genese des rex Romanorum über wahlmodale Gesichtspunkte im Altreich:
„Dux autem Fridericus adiuncto sibi episcopo Basilensi ceterisque Sweviae principibus, ac quibusque nobilibus, e regione ex altera Reni parte consederat, (…): et paratus in regem eligi, sed non regem eligere, prius explorare volebat, quem ex omnibus pricipum assensus promovere pararet.“[10]
Der aussichtsreiche Stauferkandidat Friedrich blieb also in diesem offensichtlichen Vabanquespiel um den Königsthron in Abstand zu den anderen Kandidatenlagern, angeführt vom Sachsen Lothar und vom Markgrafen Leopold von Österreich. Auch die Einrichtung eines Wahlmännergremiums („…, primo decem ex singulis Bawariae, Sweviae, Franconiae, Saxoniae provinciis principes consilio utiliores prosposuerunt, …“)[11] bestehend aus den Oberen der Stämme, verdeutlicht das den erbmonarchischen Tendenzen widersprechende Verfassungsrecht im regnum Teutonicum. Dass die Narratio lediglich von drei Kandidaten zu berichten weiß, wohingegen Otto von Freising einen vierten Kandidaten mit Karl von Flandern namentlich erwähnt, soll den Aussagewert der Narratio nicht schmälern, denn jener Graf gab schon in den Vorverhandlungen des Hoftages zu Mainz seinen Verzicht bekannt. Vielmehr scheint das Verhalten des Erzbischofs Friedrich von Köln, der beim flandrischen Grafen anfragte, einen weiteren Beleg zu liefern für den tief verwurzelten teutonischen Drang nach Etablierung von Kandidaten im Vorfeld einer Königswahl.[12] Wenn wir der Narratio Glauben schenken können, dann folgte im weiteren Wahlgeschehen eine Lehrstunde teutonischer auctoritas oder besser: deren Verlust nach Zurschaustellung einer wie auch immer begründeten Designation. Lothar und Leopold verzichteten jedoch und verpflichteten sich nach Rückfrage des Mainzer Erzbischofs ohne jegliche Einschränkung auf die Eidbekundung dem zukünftigen König gegenüber.[13] Wie stark die persönliche Abneigung des Mainzer Erzbischofs gewesen sein mag oder der mögliche rex Teutonicum das Synonym für den primus inter pares statuierte, kommt nun in der Reaktion auf folgende Anfrage des Mainzers Adalbert zum Ausdruck:
„Requisitus ergo dux Fridericus, utrum ipse quoque sicut et ceteri ad totius ecclesiae regnique honorem et liberae electionis commendacionem perpetuam idem quod ceteri fecerant facere vellet, sine consilio suorum in castris relictorum se respondere nec velle nec posse asseruit; (…)“[14]
Zur Ehre der Kirche, des Reiches und für die freie Wahl sollte Friedrich – lediglich über einen zeremoniellen Sprachakt – auf die Designation verzichten? Adalbert kannte offenbar den Staufer besser als gedacht, denn jener entzog sich dem traditionellen Wahlmodus zum Trotz der Verantwortung durch Flucht in das staufische Wahllager. Friedrich verschmähte, getragen von erbrechtlichen Gedanken, aber in erster Linie das freie Wahlrecht der Fürsten, zumindest in der Außenwirkung.[15] Die leichte Abänderung der Loyalitätspassage im Wahlmodus lieferte aber bereits das Indiz für eine merkliche Antipathie dem Staufer gegenüber. Der Kleriker hatte in Rechten und Pflichten hinsichtlich des legitimen Wahlfindungsaktes genauso die Genese zur Austarierung zu garantieren wie das selbstverpflichtende Rollenspiel der Kandidaten, so Friedrich es hätte wahrgenommen. Und diese Wahrnehmung konnte nicht ausschließlich durch das persönliche Schisma zwischen Adalbert und dem letzten Salier verursacht worden sein.
5. Lotharius rex sit!
Tags darauf versicherten Lothar und Leopold wiederholt ihre Loyalität gegenüber dem zukünftigen König, und erste prosächsische Rufe ertönten („…, subito a laicis quam pluribus: Lotharius rex sit!“)[16]. Tumulte ließen sich nicht vermeiden, Fürsten waren verärgert. Selbst Lothar erkannte die Notwendigkeit und forderte die Bestrafung der Lärmenden. In diesem Verhalten zeigt sich abermals die tiefe Verwurzelung im Wahlreich, um die Legitimation des zu Wählenden nicht zu schmälern. Eine tumultarische Erhebung Lothars wurde von allen Anwesenden mit explizitem Stimmrecht verneint, schließlich waren es ja die Laien, die den Lothar ausgerufen hatten. Auch der Hinweis auf die Abwesenheit des Bayernherzogs verdeutlicht noch einmal den verpflichtenden Rahmen bei einer Königswahl im Altreich. Erbrechtliche Argumente oder emotionale Rufkanonaden waren von negativer Attitüde geprägt oder verursachten ein dementsprechendes Klima. Zudem hatte der Staufer Friedrich durch das in Griffweite liegende Geblütsrecht die Situation im Teutonicum falsch eingeschätzt. Leumund, Geblütsrecht oder eine Favoritenrolle bei der Königswahl bildeten nicht die Stufen aufwärts zum Thron des großen Aacheners, sondern die Integration und Akzeptanz von wahlmodalen Spielregeln im Personenverbandsstaat, zur Schau gestellt von möglichen Kandidaten für die ostfränkische Krone. Friedrich redete nicht mit denen, die redeten und die letztlich auch wählten. Und wie stark dann der Drang nach einer allgemeinen Übereinstimmung unter den führenden Fürsten für die Erhebung in die Königswürde verankert war, zeigte sich in der Anwesenheit des eigentlich mit Friedrich von Schwaben angebandelten bayrischen Herzogs:
„Accito igitur duce Bawarico, iam sancti Spiritus gratia ad unum idemque studium animos omnium unire curabat, et unanimi consensu ac peticione principum iam primum Lotharius rex Deo placitus sublimatur in regnum.“[17]
Ein weiterer Beleg für die ostfränkische Agonie hinsichtlich erbmonarchischer Tendenzen war die Übereinkunft des Bayernherzogs Heinrich mit Lothar, denn Heinrichs Schwiegersohn war nun ausgerechnet Friedrich von Schwaben. Hier liegt denn auch der staufisch-welfische Dualismus begründet, der unter Barbarossa und Heinrich dem Löwen zum Höhepunkt generieren sollte. Der Welfe Heinrich nahm die Aussicht auf eine Vergrößerung der Hausmacht gerne an zum Nachteil seines Schwiegersohnes aus Schwaben, denn sein gleichnamiger Sohn wurde wenig später mit der einzigen Tochter Lothars vermählt. Reichsfürstliche Hausgutpolitik oder die pathologische Zeremonie wahlmodaler Vereinbarungen aus dem überlieferten Recht oder nach vereinbartem tagesaktuellen Prozedere bei Königserhebungen mit dem Privileg der freien Wahl (liberae electionis commendacio perpetua)[18] waren die sacrosankten Elemente einer Königserhebung im Altreich, die in der Personalie Lothar kummulierten. Insofern ist die in der Narratio vorgestellte Königswahl von 1125, losgelöst von der Intention des Verfassers, von den konkreten Personalkonstellationen und vom Ausmaß einer Quellenkritik, inhaltlich eine Kampagne für die Königswahl wider die Statuierung erbmonarchischer Attitüden. Die verfassungsrechtliche Verschriftlichung sollte dann wiederum zwei Jahrhunderte später erfolgen mit der Goldenen Bulle des Luxemburger Karls IV. von 1356.
Quellen- und Literaturverzeichnis:
Quellen:
Thietmari Merseburgensi episcopi, Chronicon, hrsg. von Robert Holtzmann (MGH SS rer. germ. N. S. 9), Berlin 1935.
O.A., Narratio de electione Lotharii Saxoniae ducis in regem Romanorum. hrsg. von Wilhelm Wattenbach, in: Historicae aevi Salici (MGH SS 12), Hannover 1856.
Ottonis et Rahewini, Gesta Friderici I. imperatoris, hrsg. von Georg Waitz (MGH SS rer. Germ. 46), Hannover 1912.
Lamperti Monarchi Hersfeldensis, Opera, hrsg. von Oswaldus Holder – Egger (MGH SS rer. germ. 38), Hannover 1894, S. 168.
Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen, hrsg. von Edward Schröder (MGH Dt. Chron. 1,1), Hannover 1892, V. 16942 – 16944.
Literatur:
Bernhardi, Wilhelm, Lothar von Supplinburg (Jahrbücher der deutschen Geschichte 15), Leipzig 1879.
Diedler, Hennig, Eine vergessene Designation? Zu den politischen und verfassungsrechtlichen Hintergründen der deutschen Königswahl von 1125, in: Concilium medii aevi 1 (1998), URL: http://cma.gbv.de/z/1998/dr,cma,001,1998,a,03 (zuletzt aufgerufen am 09.12.2017).
Nonn, Ulrich, Geblütsrecht, Wahlrecht, Königswahl: Die Wahl Lothars von Supplinburg 1125, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Bd. 44 (1993), S. 146 – 157.
Speer, Lothar, Kaiser Lothar III. und Erzbischof Adalbert I. von Mainz. Eine Untersuchung zur Geschichte des Deutschen Reiches im frühen zwölften Jahrhundert, Köln/Wien 1983.
[1] Thietmari Merseburgensi episcopi, Chronicon, hrsg. von Robert Holtzmann (MGH SS rer. germ. N. S. 9), Berlin 1935, S. 190.
[2] O.A., Narratio de electione Lotharii Saxoniae ducis in regem Romanorum. hrsg. von Wilhelm Wattenbach, in: Historicae aevi Salici (MGH SS 12), Hannover 1856, S. 509-512. (Im Folgenden zitiert als: Wattenbach, Narratio).
[3] Nonn, Ulrich, Geblütsrecht, Wahlrecht, Königswahl: Die Wahl Lothars von Supplinburg 1125, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Bd. 44 (1993), S. 146 – 157, S. 148 (im Folgenden zitiert als: Nonn, Geblütsrecht).
[4] Ottonis et Rahewini, Gesta Friderici I. imperatoris, hrsg. von Georg Waitz (MGH SS rer. Germ. 46), Hannover 1912, S. 30 – 31.
[5] Speer, Lothar, Kaiser Lothar III. und Erzbischof Adalbert I. von Mainz. Eine Untersuchung zur Geschichte des Deutschen Reiches im frühen zwölften Jahrhundert, Köln/Wien 1983, S. 56 – 58.
[6] Lamperti Monarchi Hersfeldensis, Opera, hrsg. von Oswaldus Holder – Egger (MGH SS rer. germ. 38), Hannover 1894, S. 168.
[7] Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen, hrsg. von Edward Schröder (MGH Dt. Chron. 1,1), Hannover 1892, V. 16942 – 16944.
[13] Diedler, Hennig, Eine vergessene Designation? Zu den politischen und verfassungsrechtlichen Hintergründen der deutschen Königswahl von 1125, in: Concilium medii aevi 1 (1998), URL: http://cma.gbv.de/z/1998/dr,cma,001,1998,a,03 (zuletzt aufgerufen am 09.12.2017), S. 49.
Ist etwas faul am Staatsmann Perikles? War die Nähe zu seinem Intimus Phidias, dem Toreuten mit der Zeusstatue von Olympia, prekär wegen Verdachts auf Unterschlagung von Baumaterialien? Oder konnte er – ob inkompetent oder desinteressiert – die überlebensnotwendigen Getreidezufuhren aus dem Pontus über die Sicherung des Bosporus und Hellespont nur auf der Pnyx in eloquenten Redesalven sichern? Nichts von diesen Punkten wäre nach aktueller Quellenlage gerichtlich verwertbar gewesen zur angeblichen Tatzeit. Und die tatsächlichen juristischen Kalamitäten im Leben des Ersten Mannes in der Polis Athen betrafen das persönliche Umfeld des langjährigen Strategen. Darum soll und kann es nicht gehen in dieser Ausarbeitung. Noch heute kennen die Koryphäen der antiken Philosophie aber den platonischen Aphorismus von faulen und geldgierigen Athenern zu Perikles´ Lebzeiten. Das sind keine adäquaten Attitüden für den Hegemon des Attischen Seebundes und dem Triumphator über Dareios und Xerxes. Vielmehr scheinen hier die klassischen Geschichtsbilder von inkompletter Natur zu sein, postuliert über eine marginale Multiperspektivität. Der klassisch Gebildete konnte stets auf das Informationsprimat des griechischen Historikers Thukydides verweisen, der den deskriptiven Schreibstil zu erreichen versuchte. Ob es gelang, kann in toto hier nicht analysiert werden, aber Zeitgenossen des perikleischen Zeitalters wie Platon dürfen das Wort erhalten. Oder Thukydides selbst darf in den für die Ausarbeitung relevanten Kapiteln des zweiten Buches seiner Tradierung über den Peloponnesischen Krieg auf Ambivalenzen hin untersucht werden. Es ist dabei das Ziel, den athenischen princeps nicht in die Demontagehalle zu katapultieren, sondern ein differenzierteres Bild von einem Staatsmann zu erhalten, der sine dubio eine überdurchschnittliche Kohärenz in rhetorischen und sozialpolitischen Angelegenheiten sein Eigen nennen konnte.
2. Erst einmal Thukydides!
Hätte sich der Staatstheoretiker Platon im 4. Jahrhundert vor Christus mit seiner Politeia durchgesetzt, wäre das heutige Demokratieverständnis ad absurdum geführt worden. Sokrates, einst Lehrer des Platon, philosophiert in diesem Werk über das Naturrecht und entwickelt eine ständische Ordnung für die Res publica. Der Bauernstand, die Wächterkaste und die elitären Philosophenherrscher würden heute den gesellschaftlichen Alltag bestimmen. Gute Staatsführung verwirklicht die Gerechtigkeit. Und die Gerechtigkeit liegt in der Deutungshoheit bei den Philosophen. Es gäbe eine philosophische Oligarchie. Warum aber diese Abkehr von gleichem Recht? Unmissverständlich sieht Platon die für die Ausübung politischer Tätigkeiten notwendigen Charaktere bei den Aristokraten. Die Demokratie mit ihrer Neigung zu unersättlichem Freiheitsdrang würde in die Tyrannis münden, da die Drohnen mit ihrer apodiktischen Argumentation ein populistisches und plebiszitäres Demagogenterrain aus Zügellosigkeiten und Immoralitäten erschaffen.[1] Am Ende stünde nach Platon ein Bürger, der im ethischen Wertekatalog die Dekadenz zelebrieren würde mit übermäßigen und unkontrollierten Neigungen.[2] Dem Platoniker verbietet sich aber jegliche Form der verfassungsrechtlichen Schadenfreude, denn die platonische Kalamität ist von perfider Ambivalenz hinsichtlich einer generationenübergreifenden Psychogenese. Die Idiopragieformel, die die Stärken des Individuums in das produktive Ganze überträgt, würde eine intellektuelle Saat erzeugen für den Homo necans. Die Triebgenese psychisch entarteter Philosophen und ein Konglomerat an ethisch-sittlichen Ansprüchen wären symbiotisch in die nachfolgenden Jahrhunderte kolportiert worden.
War der demos bei Platon auf Inakzeptanz gestoßen, bildete das gleiche Recht bei einem attischen Adligen den archimedischen Punkt in dessen zeithistorischen Geschichtswerk. Ein Mann namens Thukydides, um 460 v. Chr. geboren, wohl mit thrakischer Genealogie väterlicherseits[3], kannte in jungen Jahren den Strategen Perikles persönlich. Thukydides´ Abhandlung über den Peloponnesischen Krieg kann daher zweifellos herangezogen werden als Primärquelle zur Gewinnung substanzieller Schlussfolgerungen bezüglich der politischen Vita des Strategen Perikles. Die Althistoriker können in ihren Diskursen die detaillierten Grundsatzreden des Perikles aus den
ersten beiden Büchern des thukydideischen Geschichtswerkes entnehmen, um eine plastische Vorstellung von der politischen Heimat und den konkreten Initiativen dieses Strategen am Vorabend des Peloponnesischen Krieges zu erhalten – einschließlich der von ihm propagierten Strategie im Dualismus mit Sparta, seinen Peloponnesischen Bündnispartnern. Über diese beeindruckende Darstellung des Politikers und Redners hinaus hat Thukydides in diesem Werk auch in eigenem Namen, zu der Person und den politischen Leistungen des Perikles Stellung bezogen – in einem ausführlichen Nachruf, den der in seinem persönlichen Urteil sonst sehr zurückhaltende Historiker dem Andenken des im dritten Kriegsjahr verstorbenen Staatsmannes gewidmet hat. Dieser Nachruf verknüpft die persönliche Würdigung des Perikles mit einem kritisch argumentierenden Ausblick auf den weiteren Gang des Kriegsgeschehens und die Entwicklungen im politischen Leben Athens bis zur Entscheidung von 405/4 v. Chr. Thukydides´ Urteil über Perikles steht somit eindeutig im Zeichen der für Athen und seine Demokratie so fatalen Niederlage und der damit verbundenen Grundsatzfragen. Mit festem Blick auf das katastrophale Ende der athenischen Kriegsführung und den Zusammenbruch der athenischen Demokratie will Thukydides deutlich machen, dass man den führenden Staatsmann der 430er Jahre und seine damalige Politik gerade nicht vom fatalen Ausgang dieses Kriegsgeschehens her beurteilen dürfe. Dabei hat der antike Autor die Geschichte des Peloponnesischen Krieges bekanntlich nicht nur gründlich erforscht, sondern auf seinem schweren Lebensweg auch ganz persönlich erlitten. Für Thukydides kommt jedenfalls eine unmittelbare, persönliche Kriegsschuld des Perikles, in seinen Reaktionen und Initiativen während der über mehrere Jahre sich hinziehenden diplomatischen und politisch-militärischen Auseinandersetzungen vor dem eigentlichen Beginn des Peloponnesischen Krieges, nicht in Betracht. Ebenso wenig ist von gravierenden Fehlern des Politikers in der machtpolitischen Risikoabwägung im Verlauf der eskalierenden Konflikte an den Rändern der miteinander rivalisierenden Bündnissysteme die Rede.[4]
Darin liegt der fachwissenschaftliche Wert des thukydideischen Geschichtswerks. Und das ist die Initiative für eine distanzierte Verwendung der platonischen Argumentation hinsichtlich der Bewertung der perikleischen Ära, wobei die Kritik Platons an der Demokratie durchaus verständlich ist. Gerade in der letzten Phase des Peloponnesischen Krieges kam es zu latent abschreckenden Entscheidungen der Volksversammlung, dokumentiert über die Todesurteile gegen die Strategen, die man des Fehlverhaltens bezichtigte in der Seeschlacht bei den Arginusen 406 v. Chr.[5] oder die Einführung des oligarchischen Terrorkommandos Dreißig im Jahre 404 v. Chr. In diesem annus horribilis hatten die Athener nicht nur die Herrschaft verloren, sondern verloren auch die Oberhoheit über die Stadt, als diese gegenüber den Spartanern affine Kommission aus dreißig Oligarchen die Terrorbrigade exhibitionierte. Diese oder ähnlich gelagerte Volksbeschlüsse mögen Platon darin bestärkt haben, die Demokratie als instabil zu titulieren. Erst ein Stratege namens Thrasybulos, Veteran des Peloponnesischen Krieges, ermöglichte mit der Beseitigung der spartanischen Garnison und mit dem Sturz der despotischen Dreißig die Restauration der athenischen Demokratie. Allerdings scheint die radikale Kritik[6] des Platon überzogen, da Rechtsinstitutionen wie die Nomotheten oder die Klage graphē paranomon die Macht der Volksversammlung und der Demagogen relativierten. Offenbar ging es Platon nicht um eine dogmatische Ablehnung, sondern um eine pointierte Hinweisgebung auf ein Übermaß an demokratischer Freiheit. Und hier zeigt Platon analytischen Habitus, denn die Achillesverse der athenischen Demokratie lag in dem Ideal, jedem männlichen Bürger der Polis Athen die politischen Rechte in der Umsetzung zu gewähren.[7] Realiter konnte mit dem Ideal der politischen Gleichheit keine Gleichschaltung der ökonomischen Unabhängigkeit erreicht werden, denn der Bauernstand wäre monetär nicht potent gewesen, die Pnyx oder die Agora hochfrequentiert aufzusuchen.[8]
3. Der thukydideische Perikles
Dem versierten Historiker ist der Thukydides bekannt als der Begründer der politischen Geschichte, wenig merklich entfernt von der historischen Methode der neuzeitlichen Geschichtswissenschaft. Unabhängig von methodischen und fachwissenschaftlichen Diskursen, das thukydideische Bemühen um Nüchternheit und Aufklärung erhält eine Zustimmung.[9] Eine Demonstration dieser vorzeigbaren Geschichtswissenschaft liegt in der Darstellung der Periklesgestalt. Dieser Staatsmann repräsentierte in der Hochphase der Polis Athen einen demokratischen Staat mit mehrjährigen, durchgehenden Erfahrungen als Stratege. Thukydides berichtet in seiner sachlichen Art über die Taten dieses Regenten, er lässt den Protagonisten des Perikleischen Zeitalters ausführlich in mehreren Grundsatzreden zu Wort kommen und lässt ihn die Grundgedanken seiner Politik darlegen. Der berichtende Teil der thudydikeischen Darstellung und die dem Perikles in den Mund gelegten Reden bilden eine in sich abgestimmte Kohärenz, so dass daraus eine Zustimmung des Geschichtsschreibers herausgelesen werden kann.[10] Mit dem Herannahen des Peloponnesischen Krieges erhält Perikles eine Überzeichnung als in Rede und Tat mächtiger Mann im Staat. Athen ist der Primus in der griechischen Welt. Die Politik Athens, das so den Anspruch des Staates mit der Würde des Bürgers in Einklang bringt und die anderen Poleis durch Wohltun, durch Vertrauen auf großmütige Gesinnung sich zu Freunden macht, wird als hellenistische Schule tituliert.[11] Die ehemals verbündeten Städte sind zu Untertanen geworden, ihre Abhängigkeit ist so klar, dass Athen unumwunden als ägäischer Hegemon bezeichnet werden kann. Das einheitliche Wirtschaftsgebiet, das so entstanden ist, macht Athen reich, der Staatsschatz ist gefüllt. Die Polis Athen ist möglichen kriegerischen Auseinandersetzungen gegenüber ressourcenintensiv.[12] Thukydides, der dieses maritime Bündnissystem analysiert, ist voll Bewunderung für den Strategen Perikles, der diesem ägäischen Gebilde in den ägäischen Gefilden einen hellenistischen Liktoren gibt. Das Zeitgenössische spricht zudem für Thukydides, da er persönlich diesen Staatsmann kannte oder sich doch zumindest dessen Auftritten auf der Pnyx vergegenwärtigte. Perikles den Demos lenkt, wie er in klarem Vorausschauen und in Begeisterung für seine Stadt die große Macht aufbaut und sichert. Perikles verkörpert den idealen Staatsmann mit den für einen Realpolitiker notwendigen Eingebungen für von markanter Demagogie befreite Volksversammlungsbeschlüsse, mit bezwingender Redegewalt, mit Vaterlandsliebe und persönlicher Uneigennützigkeit.[13] Thukydides erkennt darin die Harmonie zwischen demokratischer Verfassung und persönlicher Staatsführung, zwischen einem Kulturstaat und maritimer Hegemonie im Attischen Seebund. Die Gültigkeit dieser Norm, die Perikles aufgerichtet hat, erweist sich dem Geschichtsschreiber auch im Geschehen nach Perikles´ Tod, an dem Abgleiten der Epigonen wie Kleon oder Nikias, der Selbstaufgabe und Kapitulation Athens nach der deklassierenden Seeschlacht bei Aigospotamoi 405 v. Chr. Diese amourösenhafte Fremdinszenierung zur Etablierung eines normfokussierenden, über die Zeitgenossen hinaus vitalen Geschichtsbildes kommt im Abschnitt 65 des zweiten Buches deutlich zum Ausdruck.[14] Und genau dieses Urteil des Historikers qualifiziert diesen Thukydides als einen über den reinen Hofhistoriographen hinausgehenden Literaten, da dessen Geschichtswerk zu einer Zeit verfasst wurde, als Athen ressourcenverbraucht unter Oligarchen wie Peisandros, einem der Wortführer des oligarchischen Rates der 400, darbte.
4. Kritik gehört zum Geschäft
Da ist Perikles der erste Mann Athens, der Regent einer Bürgerschaft, die die Worte des Perikles beherzigt. Die nachfolgende Führungskaste zeichnete sich nach den Worten des Thukydides jedoch durch allzu großen Frevel aus hinsichtlich der charakterlichen Schwächen.[15] Offenbar war der Demos nach dem Tod des großen Strategen 429 v. Chr. wenig geneigt oder von limitierter Denkkraft, da die eloquente Kunst der Demagogie die Anfälligkeit für Fehlleistungen potenzierte. Aber waren es nur wirklich die Epigonen wie Diodotos, die das diabolische Schwert der Verführung schwangen? Gilt Perikles nicht als Begründer dieser Saturierungspolitik? Der Geschichtsschreiber berichtet der Nachwelt selbst, wie zu Lebzeiten des Perikles die Pest Athen in ihrem Atem hielt und der ausgemergelte Demos Signale der Verständigung mit den Peloponnesiern forderte.[16] Da lässt er dann seinen Staatsmann in der Gefallenenrede bittere Vorwürfe an die Bürger richten, ihren Wankelmut und ihre Niedergeschlagenheit tadeln. Da lässt Thukydides den Perikles posaunen, sie sollten nicht kleiner sein als die Vorfahren[17], aber wenige Monate zuvor trompetete er martialisch, dass die Vorfahren angesichts des gegenwärtigen Geschlechts zurücktreten.[18] Entweder ist es sprachlich tonierter innerer Wankelmut gewesen oder der Demagoge Perikles richtete sich nach den stimmungsträchtigsten Formulierungen auf der Pnyx. Auch wenn sie die auctoritas eines Perikles nicht gehabt haben, so sind die Epigonen frei von jeder totalen Schuldfrage hinsichtlich der byzantinischen Verhältnisse in der Volksversammlung. Wie formulierte es doch einer der bekannten Gegner des Perikles, Plutarch beim Namen, und in diesem Zitat steckt bereits der Verdacht des dialektischen Demosthenes:
„Wenn ich ihn im Ringkampf zu Boden geschleudert habe, streitet er ab, überhaupt gefallen zu sein, und kann dabei erfolgreich sogar die Augenzeugen in ihrer Meinung umstimmen.“[19]
Selbst im Kapitel 65 des zweiten Buches mit einer offensichtlichen parteiischen Würdigung des Perikles, kann und muss Thukydides mögliche Verfehlungen und Unpässlichkeiten in der politischen Vita des Perikles aufzeigen. Thukydides hält sich jedoch bedeckt, listet ohne abwägende Argumentation die Malusse auf und begibt sich anschließend mit bedeutend größerem Elan nach Erklärung in die perikleische Koketterie.[20] Hierbei darf man eine kleine Anmerkung in Kapitel 65 nicht überlesen, die von eminenter Bedeutung ist hinsichtlich der perikleischen Akzeptanz im attischen Demos. Perikles wurde trotz der Zermürbungsstrategie der innenpolitischen Gegner am Ende der dreißiger Jahre immer wieder im Strategenamt bestätigt:
„Sehr bald danach freilich, wie die Menge pflegt, wählten sie ihn wieder zum Feldherrn und überließen ihm die wichtigsten Entscheidungen, da jeder in seinem häuslichen Kummer nun schon eher abgestumpft war und sie ihn für die Bedürfnisse der gesamten Stadt doch für den fähigsten Mann hielten.“[21]
Die Wahl des Strategen war ursprünglich eine phylenweise Kandidatenauswahl, aber Änderungen in den Wahlmodi führten dazu, dass die Kandidaten mit den meisten Stimmen über die Phylengrenzen hinweg in das Strategenkollegium gewählt wurden. Perikles konnte sich also neben seiner Hausmacht auch auf eine überegionale Wählerschaft berufen.[22] Diese Singularität zeichnet dieses Kapitel aus. Es verrät über den Historiker Thukydides mehr persönliches als diesem es weniger beabsichtigt war. Um sich dem Vorwurf des politischen Pamphlets mit transgredienter Denkmalsetzung entziehen zu können, kam es zu unkommentierten Biographieversatzstücken, in denen der aufmerksame Leser aber die Brücken schlagen kann zu einer perikleischen Kritik.
Zwischen dem Ersten Mann im Staat und seinen Polisbürgern müssen eklatante Spannungen existiert haben. Das war das Ergebnis einer Politik, die nur den Demos befriedigen wollte. Nehmen wir die Kleruchienpolitik als veranschaulichtes Mittel der narkotisierenden Massenstimulation, um den negativen Frieden in der Polis Athen nicht ausufern zu lassen. Eine systematische Ansiedlung von Athenern in Poleis der Bundesgenossen war eine dekadente und kurzsichtige Portion des ägäischen Imperialismus und die enaktive Form einer egoistischen Polis namens Athen. Mit Zuckerbrot und Peitsche hantierte der Demagoge offenbar schon in der Antike. Gelegentliche Restriktionen bei Komödienaufführungen zeigten die Ambivalenz in der Amtsführung des griechischen princeps. Dass das mit der Wiedergeburt der Peisistratiden und deren apologetischen Redetitan Perikles sicher überzogen war, bleibt in der Annahme nicht fremd, aber ein Komödieninhalt dient durchaus für Revelationen und für Infantilisierungen des Demos.[23] Zudem müssen grundsätzlich imperialistische Neigungen unterstellt werden, und das gilt unisono für Thukydides und Perikles. Es war selbstverständlich, dass aus der anfänglichen Symmachie mit bilateralem Charakter eine attische Hegemonie wurde. Und ganz nebenbei und abwägungsfrei sprechen deren Befürworter Perikles und Thukydides davon, dass der Hass auf die Athener hingenommen werden müsse als Preis für den ewigen Ruhm.[24] Unverblümt demonstriert Perikles einen Stolz für die geographischen Ausläufer des Attisch-Delischen Seebundes.[25]
Daran anschließend kann die von Thukydides vorgetragene Kriegsstrategie[26] des Perikles als bedingt bevölkerungsfreundlich angesehen werden. Militärstrategisch war die perikleische Überlegung den attischen Stärken angepasst: die defensive Ausrichtung des Landheeres musste die Spartaner auf dem Land binden und die Stoßkraft abfedern, wohingegen die athenische Flotte an den peloponnesischen Küstenabschnitten in Partisanenmanier konstante ökonomische Nadelstiche fabrizieren sollte. Notfalls konnten die Ressourcen überseeisch bezogen werden, und der Umschlagsplatz in Piräus oder die Polis Athen waren durch die Langen Mauern geschützt. Die Ermattungsstrategie war durchdacht, aber lediglich einer Blitzkriegstrategie gegenüber affin oder auf die Unfähigkeit einer peloponnesischen Invasionsarmee ausgerichtet. Der spartanische König Archidamos II. erkannte diese verdeckte Achillesferse der Athener und setzte mit seinem Invasionsheer später in der Anfangsphase des Krieges auch dort ressourcenzerstörend an. Lediglich 429 v. Chr. verzichtete der spartanische Feldherr auf eine Invasion, aber da war die Pest in Athen ein unfreiwilliger apokalyptischer Reiter in spartanischem Dienst, dem auch Perikles zum Opfer fiel. Gerade die attische Landbevölkerung und deren Produktionskapazitäten und -möglichkeiten waren bei langer Kriegsdauer der Überforderung ausgesetzt. Auch die Situation auf den Inselpoleis und die außenpolitischen Bündnismöglichkeiten Spartas waren nicht den langfristigen Planspielen angepasst. Selbst Thukydides weiß von dieser hasardeurischen Strategie[27] zu berichten, favorisiert aber die perikleische Rede mit herrischem Durchhalteparolen für die athenische Landbevölkerung.
5. Perikles … Der Mann wird nicht neu aufgebaut!
Der athenische princeps braucht nicht neu aufgebaut zu werden. Die Aussage ist weniger radikal und von moderatem Ton. Thukydides zeichnet einen Mann, der am Vorabend des Peloponnesischen Krieges trotz Avancen gegenüber einer imperialen Ägäis unter attischer Hegemonie die Volksherrschaft befürwortet, und der Einzelne hat lediglich in der auctoritas nach seinem Verdienst einen höheren Rang, sonst gilt gleiches Recht. Ob seine letzten Jahre als Stratege von saturierender Natur waren zwecks Ämtererhalts, seine innenpolitischen Feinde propagandistische Mittel aller Couleur nutzten zur Diskreditierung seines persönlichen Umfeldes und seiner Person oder Thukydides ambivalent und mit wenig Multiperspektivität ein Periklesbild für die Nachwelt zeichnete, bleiben doch die breite Akzeptanz in der Bevölkerung (natürlich nicht mit durchgehender Bewunderung), dokumentiert über die langjährige Tätigkeit als Stratege und die dem Perikles nachgesagten Worte aus dem Peloponnesischen Krieg, um den princeps des attischen Demos nicht aus der Ruhmeshalle bekannter Staatsmänner zu verfrachten. Das Geschichtswerk des Thukydides war in Methode noch nicht ausgereift für die Multiperspektivität in toto, so dass eine abwägende, diametrale Charakterstudie Grundlage hätte sein können für tragbare und facettenreiche Psychoanalysen.
„Die Verfassung, nach der wir leben, vergleicht sich mit keiner fremden; viel eher sind wir für sonst jemand ein Vorbild als Nachahmer anderer. Mit Namen heißt sie, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf eine größere Zahl gestellt ist, Volksherrschaft.“[28]
6. Quellen- und Literaturverzeichnis:
Quellenverzeichnis:
Thukydides: Geschichte des Peloponnesischen Krieges 1, griech. – dt., übersetzt und mit einer Einf. und Erl. vers. v. Georg Peter Landmann, München 1993 (Sammlung Tusculum).
Thukydides: Geschichte des Peloponnesischen Krieges 2, griech. – dt., übersetzt und mit einer Einf. und Erl. vers. v. Georg Peter Landmann, München 1993 (Sammlung Tusculum).
Literaturverzeichnis:
Bleckmann, Bruno: Der Peloponnesische Krieg, München 2007.
Bleicken, Jochen: Die athenische Demokratie, Paderborn 1995.
Lehmann, Gustav Adolf: Perikles. Staatsmann und Stratege im klassischen Athen, München 2008.
Maurer, Reinhart: Platons Staat und die Demokratie, Berlin 1970.
Mittermeier, Karl/Mair, Meinhard: Demokratie. Die Geschichte einer politischen Idee von Platon bis heute, Darmstadt 1995.
Prestel, Georg: Die antidemokratische Strömung im Athen des 5. Jahrhunderts bis zum Tod des Perikles, in: Breslauer Historische Forschungen 12 (1939).
Ruschenbusch, Eberhard: Die Wahl der Strategen im 5. und 4. Jh. v. Chr. in Athen, in: Historia 24.1, S. 112 – 114, URL: http://www.jstor.org/stable/4435429. .
[4] Lehmann, Gustav Adolf: Perikles. Staatsmann und Stratege im klassischen Athen, München 2008, S. 16 – 17.
[5] Die Athener besiegten in dieser größten innergriechischen Seeschlacht die Spartaner vernichtend in der Endphase des Peloponnesischen Krieges. Ursprünglich hatte der spartanische Nauarch Kallikratidas die athenische Flotte auf Lesbos eingekesselt, doch konnte eine athenische Entsatzflotte an der Inselgruppe der Arginusen die Spartaner vernichtend schlagen unter anderem durch die Mitwirkung des Nauarchen Perikles des Jüngeren, einem Sohn des Staatsmanns Perikles. Die angespannte Situation spiegelte sich jedoch im nachfolgenden Arginusenprozess wieder, als man der Mehrheit der an der Seeschlacht beteiligten Strategen den Vorwurf der unterlassenen Bergung von Toten und Schiffbrüchigen vorwarf.
[22] Ruschenbusch, Eberhard: Die Wahl der Strategen im 5. und 4. Jh. v. Chr. in Athen, in: Historia 24.1 (1975), S. 112 – 114, URL: http://www.jstor.org/stable/4435429.
[23] Prestel, Georg: Die antidemokratische Strömung im Athen des 5. Jahrhunderts bis zum Tod des Perikles, in: Breslauer Historische Forschungen 12 (1939), S. 53.
[24] Lehmann, Gustav Adolf: Perikles. Staatsmann und Stratege im klassischen Athen, München 2008, S. 273.
Jahrhundertelang diente den Römern ein über 200 Hektar großes tiefebenes Feld zwischen dem Tiber, dem Quirinal und dem Kapitol als militärischer Übungsplatz. Es handelte sich um einen traditionsreichen Ort, da der Überlieferung nach während der Etablierung der römischen Republik (um 509 v. Chr.) die dort betriebene Landwirtschaft des letzten römischen Königs Tarquinius Superbus zerstört wurde. Das hatte Symbolkraft, und wie bei den Römern üblich, gab es zu Ehren der dann bis 27 v. Chr. existierenden Republik einen Altar gesetzt, hier zu Ehren des
Kriegsgottes Mars. Das einst unbedeutende Acker- und Weidefeld wurde zum Marsfeld, dem Campus Martius. Die siegreichen Soldaten und ihr Feldherr erhielten hier den wohlverdienten Triumphzug, ausländische Gesandtschaften wurden auf dem Feld von Vertretern der römischen Republik empfangen, bei Bedarf liefen gelegentlich Viehherden über dieses republikanische Gemeindeland oder im Circus Flaminus zwischen Tiberinsel und Kapitolhügel veranstaltete man Pferderennen. In der Spätphase der römischen Republik zu Zeiten der römischen Bürgerkriege (133 v. Chr. bis 30 v. Chr.) begann dann die gebäudetechnische Kultivierung des Marsfeldes. Diktatoren wie Sulla und Feldherren wie Pompeius oder Agrippa bauten das Ackerland förmlich zu, zumindest ließen sie es zu. Der freie Blick auf ein republikanisches Stück Land war zerstört. Die Gebäudeansammlungen konnten sich jedoch sehen lassen und verdeutlichten Sendungsbewusstsein und Leistungsstärke der römischen Architektur im 1. Jahrhundert v. Chr. Pompeius,
Gegenspieler des bekannten Julius Caesar, ließ 55 v. Chr. auf dem Marsfeld das erste Steintheater in Rom einweihen zu Ehren seiner Erfolge gegen Seepiraten und König Mithridates von Pontos. Die dort vorkommende Portikus (Säulengang) war übrigens an den Iden des März 44 v. Chr. Panorama für den Caesarmord durch Cassius und Brutus. Bereits an Pompeius zeigte sich ein typisches Muster architektonischer Ehrerbietung an die militärischen Erfolge der Bauherren. Dieser Baustil wurde wenige Jahre später
durch Octavian perfektioniert, den Großneffen Caesars. Jeder kennt diesen Großneffen, denn es war der erste römische Kaiser Augustus. 33 v. Chr. finanzierte Octavian über die Einnahmen aus dem Krieg in Dalmatien (heutiges Kroatien) die Portikus Octavia auf dem Marsfeld, und nebenbei nahm er mit der Säulengangehrung für seine ältere Schwester Octavia seinen Rivalen und Schwager Marcus Antonius viel Rückhalt in der römischen Öffentlichkeit. Octavian wusste, dass er Triumphzüge, politische Rivalitäten und persönliche Zielsetzungen an geschichtsträchtigen Orten wie dem Marsfeld propagandistisch und architektonisch am besten fokussieren konnte. Wie er sich direkt sah und die Nachwelt ihn sehen sollte, kam gerade in den von ihm in Auftrag gegebenen Bauwerken nach der Seeschlacht bei Actium 31 v. Chr. zum Ausdruck, von denen die Aussagekräftigsten ebenfalls auf dem Marsfeld positioniert wurden.
Ein Monument der familiären Dauerhaftigkeit und ein Selbstbildnis der eigenen Taten oder Verdienste wurden mit dem Augustusmausoleum 29 v. Chr. hier offiziell eingeweiht. Der zylinderförmige Bau bestand aus Süßwasserkalkstein, dem sogenannten Travertino Romano. Diese frostsichere Fassadenverkleidung kam später auch beim Bau des Kolosseums zum Einsatz. Es ist davon auszugehen, dass sich – wie zu der Zeit in Rom üblich – ein kultivierter Erdhügel über dem zylindrischen Bau erhob. Der Princeps senatus thronte dabei nach Überlieferung in metallischer Gestalt auf dem Gipfel des
Mausoleums. Oktavian selbst, nachfolgende Verwandte aus der julisch-claudischen Adelsfamilie oder verdiente Römer sollten mit dieser Grabstätte sicht- und spürbare Erinnerungen an die Anfänge des Prinzipats in den zukünftigen Generationen auslösen. Das war eine Legitimation über den Tod hinaus. Nach dem Tod des Augustus 14 n. Chr. wurden auf dessen testamentarischer Veranlassung hin am Eingang des Mausoleums Bronzetafeln aufgestellt, die das Monumentum Ancyranum enthielten, einen Rechenschaftsbericht und eine Wohltatenbiographie des Kaisers, besser bekannt als Res Gestae Divi Augusti. Und Augustus hatte einiges zu erklären. Das republikanische Rechtsverständnis der Römer war in mehr als vier Jahrhunderten manifestiert. Die Erfahrungen der jahrzehntelangen Bürgerkriege schlossen aber die Alleinherrschaft nicht zwingend aus. Dieser Spagat wurde im Prinzipat überwunden und bedurfte einer Verankerung. Die formale Restitution der Republik wurde ergänzt um die Auctoritas des Primus inter pares, treffend verdeutlich in der Res Gestae:
„Post id tempus auctoritate omnibus praestiti, potestatis autem nihilo amplius habui quam ceteri, qui mihi quoque in magistratu conlegae fuerunt.“
„Nach dieser Zeit überragte ich an Ansehen alle, an formaler Gewalt besaß ich jedoch nicht mehr als die anderen, die jeweils meine Kollegen im Amt waren.“
Augustus: Res gestae 34
Die augusteische Ära brachte eine mehrere Jahrzehnte andauernde Epoche des inneren Friedens. Stabile Verhältnisse in den Provinzen, ein Sicherheitsgefühl, kulturelle Blüte und zumindest eine Wohlstandsmehrung für die römischen Bürger erleichterten in dieser Pax Romana die Legitimationsbedürfnisse des ersten römischen Kaisers. Der 9 v. Chr. eingeweihte Friedensaltar – Ara Pacis Augustae genannt – gedachte den Friedensbemühungen von Augustus.
Zeitgenossen sollten selbstverständlich als Annahmeerleichterung den Initiator der eingeführten Monarchie mit republikanischen Versatzstücken (z.B. dem Senat) vordergründig mit der Pax Romana in Verbindung bringen, und der Nachwelt musste ein entsprechendes Bauwerk auf dem Marsfeld zur Ausprägung einer zugehörigen Erinnerungskultur präsentiert werden. Die Etablierung und Akzeptanz eines dynastischen Gedankens bedurfte einer Propaganda, und sein Nachfolger Tiberius hatte somit zumindest theoretisch weniger Legitimationsdruck. Augustus scheute denn auch keine Kosten bei der Entstehung des
Altars. Feinster Carrara-Marmor aus der Toskana musste es schon sein. Reliefs mit mythologischen Darstellungen untermauerten das Sendungsbewusstsein oder den Machtanspruch für den Prinzipat. Die Julier um Augustus konnten dabei ihre familiären Wurzeln bis in die Gründungsakte Roms bebildern. Wie das?
Namensgeber der römischen Patrizierfamilie war ein gewisser Iulus, der der Legende nach ein Sohn des Aeneas war. Aeneas war ein trojanischer Adliger von göttlicher Abstammung. Seine Mutter war die Aphrodite, und durch die Wirren des trojanischen Krieges (nach Herodot um 1230 v. Chr.) strandete dieser Halbgott an die italienische Küste bei Latium. Hier gründete eben jener Iulus Alba Longa und war deren erster König. In späterer Zeit saß dann ein Numitor Silvius auf diesem Thron. Das muss für den Zuhörer noch kein
Beweggrund sein für diese Motivwahl des ersten römischen Kaisers, aber die Tochter von Numitor Silvius, die Vestalin Rhea Silvia, gebar unter Mithilfe des römischen Kriegsgottes Mars die allseits dem Namen nach bekannten Zwillinge Romulus und Remus. Der Sage nach wurden diese Zwillinge von einer Wölfin (Lupa Capitolina) in einer Grotte (Lupercal) nahe dem Hügel Palatin gesäugt. Wenige Jahre später sollten sie hier die Stadt Rom gründen (753 v. Chr.). Nun war die Argumentationslinie der gewählten Bildmotive auf den Marmorplatten für
die Nachwelt klar. Augustus konnte sich auf eine göttliche Abstammung berufen (Aeneasmotiv) und in Alba Longa eine Mutterstadt Roms aufzeigen (Lupercalmotiv). Die Selbstverherrlichung hatte aber auch beim Princeps Grenzen. Er kannte nur allzu gut das brüskierende Auftreten seines Oheims Caesar, der bei jeder Gelegenheit diese königlich-göttliche Abstammung – vorzugsweise bei den republikanischen Senatoren – zur Schau stellte. Als Verantwortlicher der Sittenaufsicht seit 19 v. Chr. (cura morum) hatte er ebenfalls die klassischen römischen Tugenden im Blick, um sich auch persönlich von den Ausartungen der letzten Jahre des Bürgerkrieges zu distanzieren. Einige Szenen thematisierten daher auch respektvolle Opfergänge an die Götter zur Heraushebung der Frömmigkeit. Augustus wollte keine unnötigen Reize setzen bei der Etablierung des eigentlich für die Römer befremdlichen dynastischen Gedankens. Der gesicherte Fortbestand der julisch-claudischen Dynastie wurde in besonderer Weise durch ein Staatskameo eines Steinschleifers namens Dioskurides zum Ausdruck gebracht, der im
Auftrag von Augustus möglicherweise nach den Wirren der militärischen Katastrophe um Varus 9 n. Chr. in Germania magna ein Relief aus einem Schmuckstein herstellte. Dieser geschnittene Schmuckstein aus Sardonyx, einer Varietät des Minerals Quarz, kann heute noch im kunsthistorischen Museum in Wien betrachtet werden. Der Habsburger Rudolf II. hatte diese Gemma Augustea zu Beginn des 17. Jahrhunderts
käuflich erworben. Die Sicherung und Weiterführung der Herrschaft erfolgte bei diesem Kameo über die ikonographische Darstellung der
verschiedenen Generationen aus der Kaiserfamilie. Im oberen Bildfeld thront Augustus gottgleich im Jupitertypus als oberste Gottheit in der römischen Mythologie mit der Dea Roma und seinem Zepter auf einem bankähnlichen Thron (dem Bisellium). Etwas versteckt hält er in der rechten Hand – aber bei genauerer Sichtung erkennbar – den Lituus. Es handelt sich hierbei um einen
Augurenstab,
den der Princeps als Wahrzeichen der höchsten politischen und religiösen Macht trug (seit dem Tod seines alten Kampfgefährten Lepidus war Augustus auch Pontifex maximus). Interessanterweise ergibt sich hieraus auch ein Bezug auf die Anfänge der Stadt Rom. Der bereits
erwähnte Romulus legte der Legende nach mit dem Augurenstab die Stadtbezirke der neugegründeten Stadt Rom fest. Unter dem Thron befindet sich der Adler, der königliche Vogel des Jupiters.
Zwischen der Roma und dem Princeps positioniert sich
offensichtlich eine Art Geburtsscheibe des ersten römischen Kaisers mit dem Steinbocksymbol. Der sogenannte Capricornus war das Geburtszeichen des Kaisers. Die Gottheiten auf der rechten Seite des oberen Bildteils sind repräsentative Figuren für die geographische Größe des Römischen Reiches. Die Oikumene verleiht Augustus den Eichenkranz, offensichtlich die Corona civica (Bürgerkrone). Da Oikumene grundsätzlich für die bewohnten Erdteile stand, sah sich Augustus offenbar in Tradition zu Alexander dem Großen als Herr über die bewohnten Gebiete…imperialistische Züge
des Imperiums. Der nicht unschwach dargestellte Oceanus symbolisiert
dabei als Weltenstrom die Umrahmung der von den römischen Legionen eroberten und erreichten die (Küsten-)Gebiete. Erdgöttin
Terra mater symbolisiert standardmäßig die Fruchtbarkeit und damit sicher auch in Stellvertretung die Wirtschaftlichkeit der eroberten Gebiete. Interessant ist, dass sie in Personalunion mit dem Jupitergestus auch bei den Römern für feierliche Eide stand. Entweder sah sich Augustus zur ikonographischen Eidaussprechung genötigt durch die militärischen Kraftanstrengungen in Pannonien und Germanien (der am Boden liegende römische Brustpanzer auf dem unteren Bild spricht dafür) oder die Stellung des Princeps war zum Zeitpunkt der Erstellung des Kameos schon sakrosankt.
Augustus hatte die Nachfolgeregelung durch Adoptionen auf eine breitere personelle Basis gestellt. Nachdem die Söhne seines alten Weggefährten Agrippa als mögliche Nachfolgekandidaten ausfielen, adoptierte Augustus Tiberius, der seinerseits seinen eigenen Neffen Germanicus adoptieren musste. Dieser Tiberius verlässt gerade am linken oberen Bildrand die Biga, ein Zweiergespann. Die Wagenlenkerin ist die Siegesgöttin Victoria persönlich. Auffallend ist das Zepter, das Tiberius in die Mitregentschaft des Princeps überführt. Hier wird Gleichrangigkeit symbolisiert. Tiberius selbst besaß neben der tribunizischen Amtsgewalt spätestens seit 13 n. Chr. prokonsularische Amtsgewalt. Der Fortbestand der Dynastie und die Reichssicherheit durch die Dynastie waren die zentralen Botschaften des Staatskameos. Tiberius hatte immerhin im Vorfeld erfolgreich in Pannonien und Dalmatien existenzbedrohende Aufstände niedergeschlagen, und daher konnten die Römer ohne Bedenken dem ankommenden Tiberius die Geschicke des Reiches
übertragen. Auf dem unteren Bildmotiv ist daher nicht ohne Grund das Aufstellen eines Tropaion in Szenerie gesetzt, begleitet von den erzwungenen Blicken der Unterworfenen. Ob der Pfosten, an dem erbeutete Waffen angebracht wurden (umgangssprachlich auch als militärische Amüsierstange bekannt), tatsächlich den militärischen Konflikten im pannonisch-dalmatinischen Raum zwischen 6 n. Chr. und 9 n. Chr. geschuldet ist, wissen wir mit absoluter Sicherheit nicht, könnte aber durch die Germanicusgestalt auf dem Kameo erklärbar sein (Figur vor dem Pferd, links neben Dea Roma). Germanicus war als übernächster Princeps vorgesehen, der Tiberius unterstützte in Pannonien in Feldherrenfunktion (trägt das Paludamentum als sichtbares Rangabzeichen).
Möglicherweise sah Augustus das schon andiskutierte eigene Geburtsdatum (23. September 63 v. Chr.) als Vorherbestimmung an und integrierte es in seine Propagandamaschinerie. Hierzu bediente er sich astronomischer Methoden. Aus Heliopolis in Unterägypten ließ der Princeps einen mehr als 20 Meter langen Obelisken heranschaffen, der die Funktion eines Schattenzeigers ausübte. Das Horologium Augusti (Sonnenuhr) war so aufgestellt auf dem Marsfeld, das am Geburtstag des Princeps (dem Herbstäquinoktium, Tagundnachtgleiche) die Schattenlinie vom Morgen bis zum Abend durch die Ara Pacis Augustae führte. Das hatte selbstverständlich wieder eine symbolische Bedeutung, denn offenbar stand der Geburtstag des Princeps im direkten Zusammenspiel mit der Pax Romana.
Im Rahmen des 5. Abiturfaches erfolgte in den Jahren 2015 und 2016 eine besondere Lernleistung von mir hinsichtlich einer Bachuntersuchung des Baches Geithe, in der westfälischen Stadt Hamm gelegen. Unter dem Titel „Die Geithe, ein Altarm der Lippe – eine ökologische Untersuchung vor dem Hintergrund der historischen und aktuellen Situation“ wurden in Wasserproben des Baches Geithe Schwermetalle nachgewiesen, die in der Konzentration mit dem unrühmlichen Prädikat „Stark belastet!“ versehen werden konnten. Seinerzeit wiesen die zuständigen Behörden unter lautsprecherischer Federführung der Stadt Hamm meine Ergebnisse mit dem Totschlagargument zurück, dass die Wasserproben nicht nach standardisierten Messungen mit korrekter Normierung durchgeführt worden wären. Nun musste ich die obere Wasserbehörde in Arnsberg informieren, die eine offizielle oberbehördliche Untersuchung in Gang setzte, die im Ergebnis nun vorliegen. Interessanterweise erhielten meine Ergebnisse – wenn auch nicht deckungsgleich – in starker Tendenz eine amtliche ausgestellte Bestätigung und darüber hinaus weitere eklatante Umweltverschmutzungen. Was war denn nun amtlich registriert oder zugegeben? Nach den Untersuchungen des Landesamtes für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz Nordrhein-Westfalen (LANUV) wurden die Richtwerte für Arsen und Zink deutlich überschritten und die Umweltqualitätsnorm für Blei nicht eingehalten. Diese Aussagen beziehen sich zunächst nur auf die von mir und dem LANUV untersuchten Wasserproben, können aber ohne Bedenken für eine Generalisierung verwendet werden. Natürlich – und es gebietet die wissenschaftliche Zurückhaltung in einem aber demonstrativ geforderten Diskurs – können dogmatische Aussagen über die Giftigkeit der vorgenannten Substanzen nur über weitere Eigenschaften des Wassers auf eine breite Basis gestellt werden.
Besorgniserregend war an den Ergebnissen, dass der Messwert von Benzo(a)pyren im Wasser mit bis zu 0,97 ng/l mehr als das Fünffache des Grenzwerts der Umweltqualitätsnorm betragen hatte. Benzo(a)pyren kommt im Kohlenteer vor, entsteht bei Verbrennungsprozessen von organischen Materialien und zählt zu den am besten untersuchten krebserregenden Stoffen. Daher kann auch deutlich formuliert werden, dass dieser wenig ökologische Stoff bei Schornsteinfegern und Rauchern für das signifikant erhöhte Krebsrisiko Mitverantwortung tragen. Ohne große Verwunderung war dann auch zu beobachten, dass das grundsätzlich schlecht lösliche Benzo(a)pyren erwartungsgemäß auch im Sediment der Geithe zu finden war. Es ist ein wichtiger Vertreter einer ganzen Gruppe von chemischen Verbindungen, der sogenannten Polyzyklischen Aromatischen Kohlenwasserstoffe (PAK). Insgesamt wurden 12 dieser PAKs im Schlamm der Geithe nachgewiesen, wobei vier dieser Substanzen einen Grenzwert überschritten, ab dem eine schädliche Wirkung zu erwarten ist. Darunter war das krebserregende, für Wasserorganismen sehr giftige Chrysen, das gewässergefährdende Phenanthren sowie vor allem das giftige Naphtalin, dessen Konzentration mit bis zu 1,5 mg/kg fünfmal höher lag als der oben erwähnte ½-PEC-Grenzwert. Die Messungen des LANUV bestätigten – wie bereits erwähnt – die von mir ermittelten (eigene Werte in Klammern) Grenzwertüberschreitungen verschiedener Schwermetalle und ergaben in allen Fällen sogar noch höhere Belastungen der Sedimente in der Geithe. Bei Zink wurde beispielsweise mit 890 mg/kg (536 mg/kg) eine Überschreitung des Grenzwerts der Umweltqualitätsnorm festgestellt. Bei dieser Substanz steht vor allem die Giftigkeit für Pflanzen und Wasserpflanzen im Vordergrund. Das gleiche gilt für Nickel, bei dem die Konzentration mit bis zu 48 mg/kg (20 mg/kg) das Doppelte des ½-PEC-Grenzwerts betrug. Darüber hinaus ist Nickel als Kontaktallergen bekannt, das schwere Hautentzündungen hervorrufen kann und als krebserregend gilt, insbesondere, wenn Stäube inhaliert werden. Zynisch formuliert, meine Untersuchungen waren nicht vollständig aufdeckend in der Konzentrationsmessung, also eine negative oder pervertierte Diskreditierung meiner eigenen Untersuchungsergebnisse. Mit diesem Makel kann ich leben! Bei den drei giftigsten Schwermetallen Blei, bis 90 mg/kg (51 mg/kg), Cadmium, 3,4 mg/kg (2,9 mg/kg) und Quecksilber, bis 0,95 mg/kg (0,03 mg/kg) kam es sogar jeweils zur Überschreitung der oben genannten Grenzwerte um ca. 50%. Alle drei Substanzen können sich im Körper anreichern und zu chronischen Vergiftungen mit Schädigung des Nervensystems und verschiedenen Stoffwechselstörungen führen. Sie gehören daher schon seit Jahren zu den sogenannten Prioritären Stoffen der EU-Wasserrahmenrichtlinie, die als besonders gefährlich eingestuft werden und besonderer Beobachtung unterstehen.
Zwingend war daher die Einleitungsgenehmigung zu modifizieren, wobei die diplomatische Wortwahl der tatsächlichen Gefährdungssituation klar nachsteht. Mit behördlicher Genehmigung konnte der Betreiber des Kohlekraftwerks in Hamm-Uentrop die Abwassermengen aus dem Kohleabsetzbecken in die Geithe leiten. Offensichtlich – zumindest bestätigt seit 2011, aber mit sattelfestem Verdacht wohl seit der Inbetriebnahme – waren eklatante Eingriffe in die standardisierte Abwasserbehandlung an der Tagesordnung. Für diese Genehmigung war die Untere Wasserbehörde der Stadt Hamm zuständig, die realiter das Gefährdungspotenzial des Kraftwerkskomplexes ignorierte oder in fachlicher beziehungsweise behördlicher Unkenntnis argumentierte. „Hinweise zu einer erhöhten Belastung liegen mir auch nach Abgleich der bisherigen Untersuchungen im Rahmen des Monitorings der WRRL oder eigener Untersuchungen beispielsweise des Makrozoobenthos bzw. chemisch-physikalischer Parameter oder der Fischfauna nicht vor“, kam es souverän aus der Unteren Wasserbehörde, namentlich durch Dr. Schmidt – Formann kolportiert, meinen Ansprechpartner beim Umweltamt Hamm. Diese Aussage verdeutlicht entweder eine dogmatische Inkompetenz oder das unsichtbare Gemüt hinsichtlich eines empathischen Umweltbewusstseins kann hochfrequentiert in der Unteren Wasserbehörde bestaunt werden. Nicht zur fachlichen Nachahmung geeignet oder mit dem satirischen Gütesiegel verwandt waren die Äußerungen des Mitarbeiters Cigelski der Unteren Wasserbehörde, wonach das Geithewasser nur Regen- und Oberflächenwasser sei und er sich auch in der Vorstellung verankert sehe, seine Kinder im Bach spielen zu lassen. Selbstverständlich können Vertreter von Umweltbehörden den Ganzkörperkontakt mit Schwermetallen propagieren, denn ich werde vielleicht irgendwann dem eine Nachvollziehbarkeit abringen. Versprechen kann ich es aber nicht! Durch diese Einleitungsgenehmigungen erhielt der Kraftwerksbetreiber einen Freibrief für die Entsorgung von schädlichen Abwässern. Letzten Endes lässt sich von Glück sagen, dass sich die Obere Wasserbehörde in diesen Fall eingeschaltet und Untersuchungen vorgenommen hat, die das wahre Ausmaß der Umweltschädigung/-belastung zeigen.
Die Luftbildarchäologie … Bodenfundtechnik mit kritischem Augenmaß
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Die Interpretation von Luftbildern
Grundlagen der Photogrammetrie
Das Hillefeld
Schlussbetrachtungen
Anhang
Quellen- und Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Einleitung
Der Archäologe ist stets auf der Suche nach Verborgenem und Unentdecktem. Ob nun Bibliotheken, Verdecke, Feldfluren, tatsächliche oder angebliche Spuren, so ist doch allen gemein, dass die Zeit die Ausdauer und die Nerven des Archäologen auf die Probe zu stellen sucht. Jede zeitökonomische Strategie zur Auffindung von Überresten ist da willkommen. Und jede Prospektionsmethode untersteht in der Regel einer Budgetlimitierung. Die Luftbildarchäologie kann – der kritischen Interpretationsfähigkeit unter– und oberirdischer Störungen im Bodenrelief befähigt – eine tragende Säule im Kosten- und Zeitmanagement archäologischer Untersuchungen sein. Die Vogelperspektive kann den Luftbildarchäologen dort zu Grabhügeln, alten Wegenetzen oder verdeckten Wüstungen führen, wo der persönliche Boden lediglich Färbungen oder Terrainunebenheiten preisgibt. Der den Überresten zusetzende natürliche Zerfall oder der durch Menschenhand verursachte Terraineingriff erhalten in zügigeren und großflächigeren Bearbeitungen archäologischer Areale ein wirksames Gegengewicht.
LiDAR-Systeme und UAVs[1] bilden die Grundlage für Vermessungen und archäologische Dokumentationen, zumindest erfreuen sie sich seit geraumer Zeit großer Beliebtheit.
Vom LiDAR aus werden Lichtstrahlenbündel Richtungen Erdoberfläche geschickt, deren Echo aufgefangen wird. Wenige Zentimeter Höhenunterschiede können im Gelände dadurch erfasst werden.
Die Konstruktion eines Punktwolkenbildes mit exakten GPS-Daten ermöglicht die Dokumentation, Vermessung, Kartographierung und Topographierung archäologischer Ausgrabungsstätten. Digitale Oberflächen- und Geländemodelle können erstellt und archäologisch ausgewertet werden. Und der besseren Anschauung ist mit dem LiDAR-System auch Genüge getan.
Die UAVs liefern durch die Orthorektifizierung Orthophotos. Aus dem bildlichen Rohmaterial werden die geometrischen Verzerrungen entfernt.
Die Photogrammetrie realisiert die Oberflächenbeschaffenheit, und ein bildrealistisches 3D-Modell kann mittels der Texturinformationen erzeugt werden. Das ist ein klarer Vorteil gegenüber dem LiDAR-Verfahren. Ohne zusätzliche Bildkamera würde das „Überzugmodell“ nicht funktionieren.
Im Anschluss werde ich die Grundlagen der Luftbildinterpretation unter Berücksichtigung eines Regionalbezuges und klassischer Interpretationsfehlerquellen erläutern. Orthobilder, charakteristische Merkmale von Steinzeitbauten bis zu Gemäuern während der antiken Römerzeit oder ein Exkurs in die Vorteile bei der Auswertung von Satellitenbildern sind thematisch in die Interpretation von Luftbildern eingefügt, damit mehr Plastizität Eingang findet. Grundlegendes zur Photogrammetrie und eine Ackerparzelle namens „Hillefeld“ in der Scheidinger Gemarkung im Landkreis Soest reihen sich thematisch in die Luftbildausarbeitung ein. Gerade das Hillefeld wird sich dabei als Musterspielwiese für den Luftbildarchäologen vorstellen, und mein besonderes Interesse an dieser Parzelle wird der Leser zwischen den Zeilen herausarbeiten können.
Interpretation von Luftbildern
Die Erfahrung und das Fachwissen sind unentbehrliche Faktoren für die Interpretation von Luftbildern. Terrainstörungen sind hinsichtlich der Ursachen vielschichtig. Wetterlagen,
Sonnenlichtaktivitäten, Sichtwinkel oder Jahreszeiten können weitreichende visuelle Fehlschlüsse verursachen. Bei schräger Sonneneinstrahlung aus der Luft können Reste von Gräben, Mauern oder Wällen gut erkannt werden. Durch den Schattenwurf der einfallenden Sonnenstrahlen werden Flächen, die den Strahlen mehr zugeneigt sind, stärker als vom Umfeld reflektiert. Geringste Unebenheiten im Bodenrelief sind so erkennbar, auf dem Foto ist ein Reststück einer alten Landwehr in der Werler Vöhde zu erkennen. Im Winter verstärkt sich dieser Effekt durch die starken Kontraste der tiefer stehenden Sonne. Entscheidend bei allen Aufnahmen sind der Aufnahmewinkel und die Aufnahmerichtung. Ebenfalls im Winter zeichnen sich durch
gleichmäßige, geschlossene Schneebedeckung die Strukturen im Gelände aus. Die Licht- und Schattenspiele bringen Wälle oder Grabhügel zum Vorschein. In Bodensenken oder auf Wällen bleibt der Schnee länger liegen. Feuchtes Material hält Wärme länger gespeichert. Diese gespeicherte Wärme führt bei beginnendem Frost im Spätherbst dazu, dass auf verfüllten Gräben der Schnee schneller schmilzt und so die Strukturen besser sich aus dem Schneebett herausheben[2].
Ganz allgemein resultieren Feuchtigkeitsmerkmale aus dem unterschiedlichen Speichervermögen der gestörten Bodenstrukturen. Archäologisch interessante Beobachtungen können nach Niederschlägen wenige Stunden während der Trocknungsphase auf unbebauten/unbewachsenen Flächen gemacht werden[3]. Selbst auf Feldern ohne Bewuchs lassen sich unter besonderen Bedingungen auf einer Ackerfläche Merkmale herauslesen für die Existenz von Überresten. Flächige, bandförmige Farbunterschiede im umgebenden Boden geben ein Indiz für Überreste. Die Pflugvorrichtungen in der Landwirtschaft können verfüllte Gräben und Gruben aufwühlen und so das Füllmaterial an die Oberfläche
befördern[4]. Verfärbungen sind jedoch nicht grundsätzlich ein Indiz für Überreste. Die Trennung von belanglosen Schatten und vielversprechenden Erdreichverfärbungen ist nicht einfach und bedarf eines genauen Blickes bei der Bildauswertung. Aber grundsätzlich dienen Verfärbungen auf Bildern zur Kenntlichmachung von Wällen und Grabhügeln. Ein Beispiel für diese Erdreichverfärbungen ist ein Soldatenmassengrab aus dem Siebenjährigen Krieg auf der Flur „Totenkamp“ in meiner Heimatgemeinde Scheidingen.
Auch der Pflanzenwuchs kann als Kriterium herangezogen werden bei der Suche nach archäologischen Strukturen. Raps, Rüben oder Kartoffeln gelten als eher ungeeignet für archäologische Untersuchungen, da die Pflanzenabstände ungenau sind. Günstig sind Getreidesorten mit ihren tiefen Wurzeln, mit denen sie Nahrung aus dem Untergrund aufnehmen. Unter deren Oberflächenbewuchs können verborgene Eintiefungen und Mauerzüge das Wachstum der Feldfrüchte beeinflussen und Auffälligkeiten verursachen im engen Pflanzenteppich. Die Ursache ist eine Veränderung der Feuchte und des Nährstoffhaushaltes im üblicherweise gleichmäßigen Erdreich durch die natürliche oder von Menschenhand getätigte Einfüllung von feinen Oberflächenmaterialien. Nicht unwahrscheinlich ist auch die mechanische Auflockerung von festen Erdschichten, so dass das spätere Wurzelwachstum gefördert wird, dann unmittelbar am kräftigeren Pflanzenbau erkennbar. Stoßen die Wurzeln aber in geringer Tiefe auf einen massiven Mauerzug, so bleibt es nicht ohne negative Auswirkungen auf das
Wachstum der Pflanzen. Gerste ist von allen archäologiefreundlichen Getreidesorten die Pflanze mit dem größten Potenzial für die Suche nach Überresten. Auf dem Foto ist negativer Bewuchs zu erkennen, Mauerreste von Gut Auhl befinden sich hier. Die Bildung eines starken Wurzelwerkes über Auffüllungen ist bedingt durch die längere Feuchtigkeitsspeicherung der Gräben, Siedlungs- und Grabgruben. Gut durchgelüftetes, humoses Erdmaterial macht sich eben stets bemerkbar. Hemmende Wachstumsfaktoren verursachen verschiedenfarbige Raster auf den Anbauflächen, je nach Getreidesorte mehr oder weniger feingliedrig. Der Nährstoffgehalt des Erdreiches ist bekanntlich auch über Mauerreste geringer, da das
Wasser schneller abfließen kann. Das satte Grün einer reifeintensiven Pflanze ist in der Regel bei solchen Bodenbeschaffenheiten nicht zu beobachten. Matte Farben, geringerer Wuchs und vorgezogener Reifegrad zeichnen diese auf Überresten stehenden Pflanzen aus. Exemplarisch für diesen verringerten Bewuchs steht der Auszug aus der Bergstraßer Weg in Werl. Der negative Bewuchs auf dem Zuckerrübenfeld lässt nicht
nur Überreste vermuten, sondern hier liegen tatsächlich Mauerreste. Die Gefahr der Fehlinterpretation besteht aber auch hier. Versuchspflanzungen, auf dem Bild zu erkennen, eine Versuchspflanzung auf dem Hilldefeld, im Feld oder Traktorleitlinienführungen bei der landwirtschaftlichen Bearbeitung, auf dem Bild vom Aulfeld in Scheidingen, zu erkennen, haben in der Regel keinen archäologischen Hintergrund. Die Bildmotive auf dem Aul- und Hillefeld in
der Scheidinger Gemarkung verdeutlichen die unbeabsichtigte Nähe zu vielversprechenden Mustern auf der Suche nach archäologischen Überresten. Durch die Luftbildarchäologie können Bodendenkmäler geschützt werden, sie können genauer und schneller erfasst werden und es können Informationen über sie bekommen werden, ohne Eingriff in das Bodendenkmal. Der Fund kann im Kontex seines Umfeldes betrachtet werden, es
ergeben sich andere Perspektiven im Gesamtbild über seine Ausdehnung, z.B. Gräber, Siedlungen[5]. Auf dem Foto erkennt man Überreste eines alten Bunkers aus dem Dritten Reich bei Werl. Auf sumpfigen Untergrund oder in Überschwemmungsgebieten können Flutmerkmale entstehen[6].
Um Luftbilder zielführend und –unterstützend einsetzen zu können, müssen diese Objekte der Vogelperspektive zunächst einmal entzerrt werden. Die softwareunterstützten Verfahren wie GIS oder CAD[7] werden hierfür verwendet. In der Regel wird eine Karte als Grundlage genommen, und das entsprechende Luftbild erhält eine Abstimmung mit der Grundlagenkarte. Das Ergebnis ist ein Senkrechtluftbild mit topographischer Karte, wobei das Luftbild auch als Orthofoto[8] Verwendung finden kann. Das Orthofoto ist anschließend nutzbar für weitere Kartenübereinanderlegungen oder dienlich für digitale Geländemodelle. Der Vorteil dieser Orthokarten ist, dass sie als Vermessungskarten – und hier liegt auch die gute Nützlichkeit für den Archäologen – dienen können. Die Zusammenführung und der Vergleich mit anderen Bildern ist problemfrei, so dass spätere Prospektionen zielführend umgesetzt werden können. Es ist also ein wichtiges Element in der Gesamtplanerstellung. Die 3D-Koordinaten beschreiben in GIS die räumliche Form der Erdoberfläche. Über das Laserscanning werden diese Daten zur Verfügung gestellt. Bekanntlich tastet der Laserstrahl mittels Flugzeug oder Satellit die Erdoberfläche ab. Das Verfahren sichert dabei – handwerkliche Laienfehler außen vor – eine Regelgenauigkeit in Höhe und Breite, bei der eine Spannweite von 30 Zentimetern nicht überschritten wird. Die Aussagekraft dieser Laserscanningobjekte hängt aber ganz wesentlich davon ab, ob die Punktwolkenmasse säuberlich differenziert wird nach Boden- und Vegetationspunkten. Sowohl dichte als auch spärliche Vegetation können die zu einem Teilrelief gehörenden Punkte vermengen, also zu Ungenauigkeiten führen. Außerdem finden die digitalen Geländemodelle Anwendung bei Höhenlinienplänen, Quer- und Längsprofilen, Hangneigungen oder 3D-animierten Archäologiefunden. Und die Anschaulichkeit ist dabei bei korrekter Nutzung stets gewährleistet. Aber auch hier muss die Anschaulichkeit kritisch in die Interpretation eingebaut werden. Zum Beispiel führen Agrarspuren häufig – wie bereits erwähnt – zu Fehlschlüssen. Luftbilder müssen auf Form, Größe oder Topographie hin genau und auch zeitaufwendig interpretiert werden. Die Prospektionsdauer kann den Planungsrahmen sprengen. Funde, die über klassische Parzellierungsgrößen gehen, bedürfen einer größeren Interpretationsdauer zwecks Einbindung in den Gesamtzusammenhang. Als Paradebeispiel für die Prospektionsdauer gilt hinlänglich die Heuneburg in Baden-Württemberg. Das beständige Überfliegen mit einer Vielzahl an Luftbildern führte zur Entdeckung von Grabhügeln, die sich in Beziehung zur Heuneburg setzen ließen.[9] Auch die Form von Fundamentüberresten führt zu verschiedenen Interpretationsansätzen und damit zu einer zielgerichteten Orientierung auf der Zeitleiste. Steinzeitliche Bauten sind u. a. neolithische Langhäuser, in den Individuen der bandkeramischen Kultur wohnten. Die Bauten umfassten dabei eine Länge von 20 bis 40 Metern mit einer Breite von ungefähr sieben Metern. Pfeiler und Pfosten stützten die Langhäuser, so dass in der Regel der Innenraum vierschiffrig unterteilt war. Von der Kupfer- bis zur Eisenzeit waren diese Langhäuser von Palisadenreihen umgeben. Zudem gab es Höhensiedlungen in diesen Kulturepochen. Wer Grabhügel als Überreste entdeckt, kann sich auf der Zeitleiste mit großer Wahrscheinlichkeit bei den Kelten eintragen. Fürstengrabhügel hatten bis zu 100 Meter Durchmesser und sogar eine Höhe von bis zu 14 Metern. In der Endphase der Keltenzeit kommt der markante Murus Gallicus hinzu, der schon im De bello Gallico Erwähnung findet:
„Muri autem omnes Gallici hac fere forma sunt. trabes derectae perpetuae in longitudinem paribus intervallis, distantes inter se binos pedes, in solo conlocantur. (7,23,2) hae revinciuntur introrsus et multo aggere vestiuntur, ea autem, quae diximus, intervalla grandibus in fronte saxis effarciuntur. (7,23,3) his conlocatis et coagmentatis alius insuper ordo additur, ut idem illud intervallum servetur, neque inter se contingant trabes, sed paribus intermissae spatiis singulae singulis saxis interiectis arte contineantur. (7,23,4) sic deinceps omne opus contexitur, dum iusta muri altitudo expleatur. (7,23,5) hoc cum in speciem varietatemque opus deforme non est alternis trabibus ac saxis, quae rectis lineis suos ordines servant, tum ad utilitatem et defensionem urbium summam habet opportunitatem, quod et ab incendio lapis et ab ariete materia defendit, quae perpetuis trabibus pedes quadragenos plerumque introrsus revincta neque perrumpi neque distrahi potest.”[10]
Auch keltencharakteristisch waren die bis zu 100 Hektar großen Siedlungen, Oppida genannt oder die Vierecksschanzen, die bis zu einem Hektar Fläche einnahmen. Charakteristisch für die Römer ist die Spielkartenform der Marschlager, also rechteckige Formen mit abgerundeten Kanten. Ergänzend wurde eine ca. 1 Meter hohe Palisade um die „Spielkarte“ angelegt, die durch eine Grabenaushebung entstand. Je nach Aufenthaltsdauer, Funktion oder Truppenstärke waren die „Spielkarten“ flächenmäßig zwischen 0,4ha und 3,6ha. Die Siedlungsstruktur im Mittelalter war wesentlich geprägt durch Einzelhöfe, die an Straßen mit anderen Höfen lagen, wobei auch hier pro Hof mehrere Gebäude für verschiedene Nutzungen zur Verfügung standen. Wenn es der Dringlichkeit bedarf, werden während der Flugbeobachtungen vorkommende verdächtige Spuren in Baustellen unmittelbar nach der Landung durch den Piloten den Außenstellen der archäologischen Denkmalpflege gemeldet. Anschließend werden die notwendigen Schritte zur Nachprüfung am Boden eingeleitet und – wo angebracht oder möglich – die ehrenamtlichen Beauftragten einbezogen. Hochalpine Gebiete besitzen den Nachteil, dass sie weniger intensiv beflogen werden können, da sonst die Bilder zu große Verzerrungen aufweisen. Satellitenbilder dienen hier als wirksame Ergänzung oder gar als Ersatz, um die Suche nach archäologischen Überresten in diesen Höhenlagen durchzuführen. Die Vorteile liegen klar auf der Hand, denn durch den größeren Abstand zur Erdoberfläche sind die Satellitenbilder – wie bereits erwähnt – weniger verzerrt als Drohnenbilder. Satellitenbilder erhalten sofort eine Georeferenz und Raumverortung. Nachfolgende Bearbeitungen können zeitökonomisch erfolgen. Auch die zu untersuchende Fläche kann entweder mit weniger Bildern erfolgen oder einzelne Bilder decken ein größeres Areal ab. Die 3D-Geländemodelle lassen sich aus diesen Bildern mit Hilfe der Photogrammetrie errechnen, und damit kann die Topographie des Untersuchungsgebietes abgebildet werden. Die Satellitenkameras verfügen über einen Kanal im nahen Infrarotlicht und können daher nicht nur im sichtbaren Licht ablichten. Ein klares Plus gegenüber den konventionellen Luftbildern liegt darin, dass sich im nahen Infrarotlicht die Wachstumsunterschiede in der Vegetation deutlicher abzeichnen als im sichtbaren Licht. Das Internet bietet zudem verschiedenste Bilderdienste an wie Google Earth, TIM-Online oder Bing maps, um Zugang zu den Satellitenbildern zu erhalten. Ausgewertet werden die Satellitenbilder archäologisch, indem visuell die Bilder nach möglichen Befunden abgesucht werden. [11]Der Wissenschaftler Markus Oster hat zudem ein kartographisches Informationssystem entwickelt, welches es dem Archäologen ermöglicht, virtuelle Zeitreisen zu unternehmen. Es dient auch als Kartierwerkzeug. Luftbildpläne können über eine Zoomfunktion in verschiedenen Detailstufen ausgewertet und auf einem geteilten Bildschirm multitemporal verglichen werden. Über das Internet können mehrere Nutzer diese Kartierungsbank austauschen.[12]
Photogrammetrie
Die Photogrammetrie[13] ist der übergeordnete Sammelbegriff für Messmethoden und Analysefernerkundungen, um aus Fotografien und genauen Messbildern eines Objektes seine räumliche Lage oder dreidimensionale Form zu bestimmen. Im Regelfall werden die Bilder mit speziellen Messkameras aufgenommen. Das Fachgebiet hat seinen Ursprung in der Geodäsie und wird seit etwa zwei Jahrzehnten auch der Fernerkundung zugeordnet. Die Photogrammetrie ein passives Fernerkundungs- und Vermessungsverfahren, da sie die berührungslose Rekonstruktion von räumlichen Objekten aus deren fotografisch festgehaltener Strahlung ermöglicht. Die Objekte werden meist im natürlichen Licht und von mehreren Standpunkten der Kamera aufgenommen. Das vom Objekt in die Messkamera kommende Licht kann reflektierte oder emittierte Strahlung sein, künstliche Beleuchtung wird aber meist nur bei kleinen Objekten verwendet. Das Ziel der Photogrammetrie besteht in der Wiederherstellung der räumlichen Lage von Bildern zueinander, in der sie sich zum Zeitpunkt der Bildaufnahme befunden haben. Die Zentralprojektion unter Einhaltung der Komplanaritätsbedingung ist dabei die Fachgrundlage. Folgender Ablauf hinsichtlich des Rechenvorgangs ist einzuhalten:
Absolute Orientierung: Der Modellverbund aus der relativen Orientierung entspricht bereits der Geometrie der Punkte in der Örtlichkeit, allerdings stimmt die räumliche Orientierung des Modellverbundes noch nicht mit der Örtlichkeit überein und der Maßstab ist noch unbekannt. Im Zuge einer dreidimensionalen Helmert-Transformation werden die Modellkoordinaten des Modellverbundes auf die bekannten Passpunkte in der Örtlichkeit transformiert. Die Helmerttransformation passt die Punkte so in das bestehende Punktfeld ein, dass die Restklaffungen in den Koordinaten minimal werden. Bei Verwendung einer Restfehlerinterpolation lassen sich auch diese Klaffungen beseitigen.[14]
Relative Orientierung: Hier wird die relative Lage zweier Bilder im Raum zueinander wiederhergestellt und das Modell berechnet.
Äußere Orientierung: Die äußere Orientierung ermöglicht die räumlich eindeutige Rekonstruktion der Bildlage bei der Aufnahme. Voraussetzung dazu ist allerdings, dass man über im Bild sichtbare Passpunkte in der Örtlichkeit verfügt, auf die man die Bildkoordinaten im Zuge eines räumlichen Rückwärtsschnittes iterativ einrechnet.
Innere Orientierung: Um innerhalb eines Bildes messen zu können muss bekannt sein, wo sich sein Bildhauptpunkt befindet. Dieser Punkt wird durch den Strahl gebildet, der senkrecht auf der Objektivebene, stehend durch den Brennpunkt in das Bild verläuft. Dieser Punkt, und hinzukommend, auch noch die Kammerkonstante und die Objektivverzeichnung, wird messtechnisch und erlaubt die Transformation eines gemessenen Punktes in das Bildkoordinatensystem.
( x , y , c ) {\displaystyle (x,y,c)} Früher erfolgte die Auswertung zweier Luftbilder in Luftbildauswertegeräten, die die relative und absolute Orientierung durch physische Wiederherstellung der Strahlenbündel erreichte. Heute erfolgt die Auswertung in der Regel in Komparatoren, in denen Bildkoordinaten direkt gemessen werden. Die weiteren Arbeitsschritte sind dann Verfahrensgänge der numerischen Photogrammetrie, wobei Modellblock- und Bündelblockausgleichungsverfahren zum Einsatz kommen. Bei bekannter innerer und äußerer Orientierung und bekannten 3D-Koordinaten der Objektpunkte lassen sich daraus deren Bildkoordinaten berechnen. Das entspricht der fotografischen Abbildung der Objektpunkte bei bekannter Kameraposition. Der Berechnung liegt das Modell einer Lochkamera zugrunde die im Idealfall die technische Umsetzung der Zentralprojektion darstellt. Die mathematische Formulierung der Zentralprojektion sind die sogenannten Kollinearitätsgleichungen[15].
Das Hillefeld … Ein Musterbeispiel für die Luftbildarchäologie
Im Jahr 2015 machte der LWL eine Ausgrabung in westfälischen Welver-Scheidingen auf dem Hillefeld, etwa 100 Meter vom Salzbach entfernt gelegen. Ich war persönlich vor Ort bei dieser Ausgrabung und nicht nur als Zuschauerin, sondern als aktives Mitglied der Ausgrabungscrew. 2016 erhielt ich dann den Ausgrabungsbericht von der LWL-Mitarbeiterin Dr. Cichy. Die für mich interessanteste Stelle lautete in diesem Bericht wie folgt:
„Auffällig sind vor allem zwei größere Gruben mit gräbchenähnlichen Abflüssen. Dienten Sie dazu, Oberflächenwasser unterhalb eines Fußbodens zu sammeln und aus dem Gebäudeinneren abzuleiten, ähnlich wie der Drainagekanal, der sich an der südwestecke des Gebäudes befand? Ähnliche Drainvorrichtungen sind von den ostwestfälischen Steinwerken der Wüstungen Diderikshusen (bei Büren, Kr. Paderborn) und Rozedehusen (Warburg, Kr. Höxter) bekannt.“[16]
Darum handelte es sich dabei um eine interessante Stelle? Die Gruben mit den dazugehörigen Abflüssen können als Indiz für größere Steinwerke angesehen werden. Unter Verwendung einer Drohne vom Typ DJI Phantom 3 Professional UAV Aerial Quadrocopter mit integrierter 3-Achse Gimbal zur Bildstabilisierung machte ich vom Areal um die Fundstelle mit den GPS-Daten 51,594391 und 7,939498 entsprechende Aufnahmen. Bei der Auswertung meiner Luftbilder fiel mir ein langgezogener kurvolinearer Schatten am Ende des Drainagekanals
auf, der für mich nicht erklärbar war. Ich zog an den Stellen des Schattens vor Ort Bohrkerne und stellte fest, dass es sich um aufgefüllten Boden handelte. Was die Drohnenbildaufnahme schon erkennen ließ, konnte auf der Uraufnahme von 1836-1850 bestätigt werden. Die entdeckten Drainvorrichtungen passten nun umso mehr. Unter Verwendung der Urkatasterkarten www.tim-online.nrw.de, die ich am Computer übereinanderlegte, konnte ich feststellen, dass es früher ein anderes Salzbachbett gab in der Form, dass offenbar ein um 80 Meter östlich gelegener Bachlauf im Bereich Hof Stemmerk existierte, also ein dem Salzbachsystem zugehöriger, um einige Meter versetzter Bac
habschnitt. Dass das frühere Bachbett so nicht mehr erkennbar ist, kann über das Bodenrelief erklärt werden. Hier befand sich ein Prallhang, der anthropogen – also durch Erosion und Sedimentation – überprägt wurde. Dies ist heute noch als Geländestufe auf Luftbildern zu erkennen. Der Bach floss früher im Übergangsbereich zwischen geneigtem Hang und flacher Talsohle. Es ist davon auszugehen, dass der Bachlauf zwecks Begradigung und Ausdünnung des Salzbachnetzes in der Scheidinger Gemarkung in einen Flutgraben umgeleitet wurde, also das damals vorliegende Kanalsystem – wie
auch immer in Absicht erstellt – für die Bachbettbegradigung genutzt wurde. Der Bach floss früher im Übergangsbereich zwischen geneigtem Hang und flacher Talsohle. Die trocken gefallenen Bachbettabschnitte erhielten eine standardmäßige Auffüllung für die landwirtschaftliche Nutzung. Da naturgemäß in Bereichen stärkeren Gefälles auch stärkere Erosion erfolgt, führten zudem natürliche Bodenverlagerungen zur Ausgleichung des Reliefs. Anhand des Stufenmodells lässt sich übrigens erkennen, dass die Höhendifferenz zwischen dem alten Bachbett und der heutigen Geländeoberfläche ca. 5 Meter betragen haben muss. Diese Ausmaße des Prallhangs können aber durchaus erklärt werden über den Zusammenfluss von Salzbach und Mühlenbach nordwestlich des Hofes Stemmerk. Beide Bäche gehören zu einem baumartigen Gewässernetz, das zur allgemeinen Geländeneigung vom Haarstrang im Süden zur Lippe im Norden ausgerichtet ist. Der Mühlenbach aus südlicher Richtung bekommt durch den von Westen zufließenden Salzbach dabei einen Impuls in östliche Richtung. Da genau dort die steilsten Hanggefälle zu finden sind, spricht es für einen früheren Prallhang.
Schlussbetrachtungen
Die bei der Interpretation von Luftbildern verwendeten Beispiele zeigen klar die Vorzüge der Luftbildarchäologie auf, allerdings muss das kritische Auge stets wach bleiben. Die Interpretationsfehlschlüsse sind oft versteckt in Wartestellung. Auch die schwierig abzuschätzende Prospektionsdauer kann gut gemeinte Strategien schlecht aussehen lassen. Die intensive Technik im Photogrammetrieteil vermittelt zudem eine gewisse fachliche Sensibilität im Umgang mit dieser Technik. Das Hillefeld in der Scheidinger Gemarkung ist ein Paradebeispiel für die Vorzüge oder Erkenntnisgewinne, die unter Einsatz einer Luftbildarchäologie erfolgen. Der Salzbach erfährt zahlreiche Nennungen in historischen Quellen, aber die dort getätigten Erwähnungen haben bei Ortskenntnis wenig mit den heutigen Gegebenheiten zu tun. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Namen und der Verlauf von Gewässern im Salzbach-System im Laufe der Jahrhunderte deutlichen Veränderungen unterworfen waren. Für Bachbegradigungen und -verlegungen lagen die Gründe sicherlich im Bereich des Hochwasserschutzes oder in veränderten Anforderungen bei der Gewässernutzung. Für die Namensänderungen kommen zahlreiche Ursachen in Betracht.
Alte Fluss- und Bachverläufe sind auf Luftbilder zu erkennen, bei der Verortung von Siedlungen, Gebäuden, die in Quellen genannt werden, ist die Luftbildarchäologie wichtig. Natürlich Flüsse und Bäche verändern ständig ihr „Gesicht“, d.h. sie verlagern ihren Lauf und Menschen haben in der Vergangenheit natürliche Flussläufe stark verändert und damit ganze Landschaften umgebaut.
Gerade der auf dem Hillefeld parallel zum Salzbach verlaufende Bachabschnitt zeigt denn auch, dass die über die Bachläufe verursachten Terrainveränderungen durch die Luftbildarchäologie besser lokalisiert werden können. Der Historiker hat dabei die Gefahr oder das Potenzial vor sich, auf der Suche nach Bodenfunden mit oder gegen die gängigen Quellen zu arbeiten. Formulierungen wie „(…) bildete den Salzbach bei Werl die Engern-Westfalen-Grenze (…)“, „(…) wobei das Gebiet bis zum Salzbach in Werl zum Bereich der Westfalen gehört (…)“ oder „(…) Haus Köningen den Salzbach entlang (…)“ können eine geographische Ungenauigkeit von mehreren Kilometern haben.
Quellen- und Literaturverzeichnis
Becker 1996: H. Becker, Archäologische Prospektion, Luftbildarchäologie und Geophysik (München 1996).
Bérenger 1989: D. Bérenger, Archäologie aus der Luft – Sechs Jahre Luftbildarchäologie in Westfalen (Münster 1989).
Bofinger 2007: J. Bofinger, Flugzeug, Laser, Sonde, Spaten – Fernerkundung und archäologische Feldforschung am Beispiel der frühkeltischen Fürstensitze (Esslingen 2007).
Braasch 2005: O. Braasch, Vom heiteren Himmel …. Luftbildarchäologie (Tübingen 2005).
Christlein/Braasch 1998: R. Christlein/O. Braasch, Unterirdisches Bayern, 7000 Jahre Geschichte und Archäologie im Luftbild 3(Stuttgart 1998).
Fröhlich 1997: S. Fröhlich, Luftbildarchäologie in Sachsen-Anhalt, Begleitband zur Sonderausstellung Landesmuseum für Vorgeschichte Halle (Saale) 15.02.1997 bis 31.12.1997 (Halle (Saale) 1997).
Gensheimer 1984: R. Gensheimer, Luftbildarchäologie im Jahr 1983. Archäologische Ausgrabungen in Baden-Württemberg 1983 (1984), S.13ff.
Gensheimer 1986: R. Gensheimer, Luftbildarchäologie im Jahr 1985. Archäologische Ausgrabungen in Baden-Württemberg 1985 (1986), S.13ff.
Kunow 1995: J. Kunow, Luftbildarchäologie in Ost- und Mitteleuropa. Internationales Symposium 26.-30. September 1994, Kleinmachnow, Land Brandenburg. Forsch. Arch. Land Brandenburg 3 (Potsdam 1995).
Maxwell 1983: G.S. Maxwell, The impact of aerial reconnaissance on archaeology. C.B.A. Research Report 49 (London 1983).
Oexle 1997: J. Oexle, Aus der Luft – Bilder unserer Geschichte, Luftbildarchäologie in Zentraleuropa (Dresden 1997).
Plank/Braasch/Oexle/Schlichtherle 1994: D. Plank/O. Braasch/J. Oexle/H. Schlichtherle, Unterirdisches Baden-Württemberg, 250 000 Jahre Geschichte und Archäologie im Luftbild (Stuttgart 1994).
Schwarz 2003: R. Schwarz, Pilotstudien. Zwölf Jahre Luftbildarchäologie in Sachsen-Anhalt (Halle (Saale) 2003).
[7] Geoinformationssysteme, Geographische Informationssysteme (GIS) oder Räumliche Informationssysteme (RIS) sind Informationssysteme zur Erfassung, Bearbeitung, Organisation, Analyse und Präsentation räumlicher Daten. CAD (von engl. computer-aided ,zu Deutsch rechnerunterstütztes Konstruieren, bezeichnet die Unterstützung von konstruktiven Aufgaben mittels EDV zur Herstellung eines Produkts.
[8] Ein Orthofoto ist eine verzerrungsfreie und maßstabsgetreue Abbildung der Erdoberfläche, die durch photogrammetrische Verfahren aus Luft- oder Satellitenbildern abgeleitet wird. Bei einer Luftbildaufnahme entstehen Verzerrungen einer fotografischen Zentralprojektion sowie Verzerrungen durch Höhenunterschiede des Geländes und bei Satellitenbildern Verzerrungen durch die Erdkrümmung. Analoge Bilder lassen sich durch optische Projektionsmethoden orthorektifizieren. Digitalaufnahmen werden anhand von digitalen Geländemodellen neu berechnet und anhand von Punkten mit bekannten Koordinaten georeferenziert. Vgl. hierzu https://de.wikipedia.org/wiki/Orthofoto vom 14. Mai 2017
Die Nachkriegsjahre sind wenig dokumentiert, da die Menschen – und es soll nicht abwertend klingen – mit dem täglichen (Über-)Leben beschäftigt waren für die familiäre und berufliche Neuordnung. Lehrer Esser überstand relativ unbeschadet die Entnazifizierung, da er einhellig als unbedeutender Mitläufer charakterisiert wurde. Er war eine unproblematische Personalie für den Neuanfang, obwohl Esser schon im Nationalsozialismus als Hauptlehrer an der Scheidinger Schule tätig war.
Er und seine Schützlinge – wie hier 1948 mit einer Mädchenklasse – hatten bis zu Beginn der fünfziger Jahre mehr oder weniger den Unterrichtsalltag zu meistern gewusst. Wie man berichtete, entstanden in diesen Jahren – bedingt durch die angespannte Lebensmittelversorgung – Brieffreundschaften und Helferaktionen im Rahmen von Hamsterfahrten an den Wochenenden. Parallel zu dieser solidarischen Aktivität brachte sich Esser ein bezüglich eines Schulneubaus. Das waren Tätigkeiten, die in die Nähe von Herkules und Sisyphus zugleich gelegt werden mussten, da die Einwohnerzahl nach dem Krieg systematisch zurückging. 1950 waren 105 Schulkinder gemeldet, davon 97 Katholiken. 3 Lehrer organisierten den Schulalltag. Die Einwohnerzahl ging verständlicherweise zurück, da die Gemeinde die dort eingewiesenen Ostvertriebenen nicht mit den notwendigen Arbeits- und Entwicklungsmöglichkeiten versorgen konnte. Als die wirtschaftlichen Verhältnisse und die Wohnraumsituation in den Ruhrgebietsstädten eine Erholung verzeichneten, kam es naturgemäß zu einer Ab- und Rückwanderung. Esser sah seine vordergründige Aufgabe auch darin, konstante Schülerzahlen zu sichern für einen Bestandsschutz der Scheidinger Schule. Am 23. April 1955 konnte der Werler Anzeiger dann auch offiziell die Planungen für den schulischen Neubau in Scheidingen herausgeben. Seit Sommer 1955 wurden konkrete Maßnahmen umgesetzt, um den Schulneubau zu realisieren, und das Vorhaben musste aus organisatorischen Gründen vor dem Wintereinbruch umgesetzt sein. Interessant war, dass an den Bauarbeiten auf dem Schulgelände auch Strafgefangene der Werler Justizvollzugsanstalt Verwendung fanden und Fahrzeuge aus dem Bestand des Bürgermeisters zum Einsatz kamen. Die Strafgefangenen mussten wenige Zentimeter an Mutterboden auf dem Schulgelände entfernen, da für die dreiklassige Schule ein Ausheben einer Baugrube nicht erforderlich war wegen der Nichtunterkellerung. Übrigens, bei der Entfernung des Mutterbodens war der eigentliche Hausbau noch gar nicht an eine Firma vergeben. Das lässt nur den Schluss zu, dass der damalige Werler Amtsdirektor Hiltenkamp die möglichen Kandidaten auch nachträglich ohne Bedenken mit dem entsprechenden Bauauftrag versehen konnte oder die Scheidinger Fraktion hatte die sprichwörtlichen Hummeln im Gesäß und startete in Eigeninitiative und vorauseilend die Bautätigkeiten, was dann aber auf eine Gefahr im Verzug vermuten ließ. Der nachfolgende Zeitungsartikel informiert über den Beginn der Baumaßnahmen aus jener Zeit.
Noch während der Bauarbeiten ging eine Ordnungs- und Reinlichkeitsinstanz in den Ruhestand. Alfred Hansel, der über dreißig Jahre den Hausmeister der Schule abgab, im Winter für die korrekte Funktion der Öfen Verantwortung trug und den Schulhof sauber hielt, verabschiedete sich aus familiären Gründen aus dem Schuldienst. Wie schon erwähnt, die Bauarbeiten mussten zügig vollzogen werden, denn der Winter 1955/56 nahte. Im Werler Anzeiger vom 16. November 1955 berichtete man dann nicht ohne Stolz von mammutösen Arbeitsaktionen wie Dachkonstruktion in einem Tag oder Es wird so lange wie möglich gearbeitet. 1956 war es dann endlich gerichtet. Die nachfolgenden Zeitungsartikel geben einen Eindruck wieder, nach dem offenbar die neue Schule wie ein besonderes Ereignis in Entstehung und Aura zelebriert worden war.
Was Wortelkampdazu meint, lässt den aufmerksamen Leser dazu verleiten, dass offenbar nicht nur in diesem gereimten Festbericht zur Einweihung der Scheidinger Schule platt geschrieben, sondern tatsächlich im schulischen Umfeld auch so kommuniziert wurde. Die Vermutung ist nicht nur richtig, sondern es gab auch tatsächlich einen bildungspolitischen Erlass für nordrhein-westfälische Volksschulen aus jener Zeit, wie aus nachfolgendem Zeitungsbericht zu entnehmen:
Am 1. April 1957 wurde passend zur neuen Schule ein Jubiläum einer pädagogischen Institution gefeiert. 25 Jahre fungierte Lehrer Esser als Schulleiter der Scheidinger Schule. Der allseits beliebte Lehrer hatte bereits den Sechzigsten überschritten und war seit dem 19. Februar 1914 im Schuldienst tätig. 1951 erfolgte dann im Rahmen der Einführung der Dreiklassigkeit in Scheidingen die Berufung zum Hauptlehrer. In der öffentlichen Danksagung honorierten und hofierten die Dorfältesten dann auch die Leistungen des Dienstjubilars. Zwei Jahre streifte Esser noch durch das neue Gebäude, dann senkte sich am 31. März 1959 sein Kopf bei der nach Zeugenaussagen emotional ergreifenden Abschiedsvorstellung und Lehrer Esser ging in den Ruhestand. Monsieur Esser, merci pour votre soutien. Am 20. August 1959 übernahm Lehrer Hötte das le sceptre éducatife.
Darüber hinaus muss eine Lehrerpersonalie zwingend Erwähnung finden, da seit den fünfziger Jahren die Scheidinger Schule in Fräulein Cäcilie Scholz eine Pädagogin das Regiment führte, bei der Außenstehende mindestens eine Besinnungspause nach der persönlichen Bekanntschaft mit dieser pädagogischen femme fatale einlegen mussten. Unter Umständen war auch nach der zweiten Besinnungspause noch ein unklares Fragezeichen in den Gesichtern der Zurückgebliebenen, weil diese schwierige Person ein konkurrenzloses Selbstbewusstsein an den Tag legte und mit dem pädagogischen Zeigefinger gerne die Richtung anzeigte. Möglicherweise gab es nur bösen Zungen, die die liebe Cäcilie Scholz als verbitterte Frau charakterisierten und ihre Sympathiewerte in den Nanobereich einlagerten. Und der pädagogische Züchtigungsstab hatte nicht nur eine grammatikalische Bedeutung für diese Vollblutfrau. Ob es an der Ausbildung bei den Nationalsozialisten lag oder sie von Natur aus den herrischen Sergeant mimte, blieb ihr bis zum Schluss vorbehalten. Aber sie blieb auch eine prägende Institution.
Diese Personalie soll aber nichts Unnötiges dramatisieren und den negativen Teil demonstrieren. Auch eine Frau Scholz brachte sich mit Leib und Seele in den Unterrichtsalltag ein. Jeder sitzt im Glashaus und braucht daher nicht mit (unnötigen) Steinen zu werfen. Und die letzten Jahre fungierte die nette Cäcilie mit Anstand und Würde als Schulleiterin bei der Abwicklung der Dorfschule.
Die sechziger Jahre läuteten dann die Endphase der Dorfschule ein. Der Hintergrund war die abnehmende Schülerzahl. Es gab natürlich Diskussionen, besonders mit Blick auf die mammutösen und von der Gemeinschaft getragenen Baumaßnahmen zur Realisierung der neuen Schule, deren Grundsteinlegung noch nicht einmal 10 Jahre alt war. Es half aber nichts. Und die Hoffnung auf unverhältnismäßigen Schülerzuwachs konnte nur in Verbindung mit der Mär von den Störchen einhergehen. Nur noch gelegentlich gab es Berichte, die sich mit der Ausstattung der Schule beschäftigten, so wie 1962 die Lieferung von neuen Kachelöfen oder eine neue Dachwetterfahne, die vom Goldschmiedemeister Lahme aus Geseke angefertigt werden sollte. Das Ende der Schule wurde für den Abschluss des Schuljahres 1967/68 beschlossen. Naturgemäß ging es nicht ohne hitzige Debatten vor Ort, wie der nachfolgende Zeitungsartikel vom März 1968 zu berichten wusste. Seit Sommer 1966 hatten ohnehin schon die oberen Jahrgänge die Volksschule in Welver besucht. Es ging nur noch um das ebenfalls emotional belastete schwierige Thema der Schulzuweisung der Scheidinger Schüler. Welver war durch den Ortsverband Welver-Scheidingen verwaltungsschlussfolgern die Hauptanlaufstelle, aber Werl vereinnahmte die historisch gewachsene Verbindung mit Scheidingen, da Scheidingen stets im „Norden von Werl“ angesiedelt war seit dem Mittelalter.
Mit Wehmut ist das letzte Klassenbild einer Scheidinger Klasse zu betrachten aus dem Jahr 1968. Auch Fräulein Scholz war mit auf dem Bild. Die Entscheidung war jedoch gefallen. Und ungenutzt blieb die Schule nicht, denn hier wurde dann der katholische Kindergarten einquartiert. Es war eine vernünftige Ressourcenbindung –weiternutzung. Viel blieb aber auch von der Schulgeschichte nicht mehr übrig. Hors de vue, hors d´esprit, sagen die Franzosen. Und mit dem verwaltungstechnischen Abschluss ist oft – und auch – irgendwann ein gedanklicher Abschluss vollzogen. Heute existiert noch der Kindergarten, und das alte Schulgebäude war noch einmal ein Thema Ende der achtziger Jahre wegen Renovierungsarbeiten und deren anhängenden Kosten. Heute dient das Gebäude als Mietshaus.
Resümee
Die Chronologie einer Dorfschule ist als enzyklopädische Darstellung nicht möglich. Das ist kein Eingeständnis eines gescheiterten Versuches, sondern liegt in der Natur einer schulischen Institution, die erst mit der Frühen Neuzeit über ein ausreichendes Niveau an schriftlichen Quellen verfügte über sich etablierende Dokumentationen und trotzdem größere Lücken auf der Zeitleiste aufweisen kann. Neben diesen technischen Problemen und der oft vergeblichen Suche nach altem Bild- und Kartenmaterial für eine Dorfschule zeigt sich noch problematischer die Wertigkeit der Auswahl von Alltäglichem für eine Darstellung. Das ohnehin rare Quellenmaterial – und je weiter man auf der Zeitleiste zurückgeht, desto rarer wird der Status quo der Dokumentation – erhält durch die Notwendigkeit einer Auswahl weiterhin eine Verringerung der Basis am Darzustellenden. Das Banale, das Redundante, die verstärkte Gefahr einer einseitigen Bewertung von Lehrkörpern oder auch die Vernachlässigung der Würdigung – bis hin zur unberechtigten Nichtbeachtung der Zeitzeugen – von Außenstehenden bei der Darstellung von schulischen Aktivitäten erschwert eine populärwissenschaftliche Darstellung für den direkten und breiten Zugang zu der Materie. Ich will es an zwei Beispielen aus der punktuellen Schulchronologie hervorheben:
Die nachträgliche Bewertung von Lehrkräften aus der Scheidinger Schulgeschichte, sofern keine offiziellen Bewertungsbögen auf amtlicher Seite existieren, ist eine Gratwanderung. Ein einseitiger Tenor ist darzustellen bei Vorliegen von einseitigen Zeitzeugenaussagen. Diese Einstufung muss aber nur ein Teil des Ganzen widerspiegeln und ist es auch in der Regel. Der Historiker ist zur Multiperspektivität verpflichtet. Aber wie ist es um den Historiker geschehen bei lückenhafter Darstellung von Psychogrammen? Es ist eine unmögliche Mission, die im realen Versuch nur eine auf Sand gebaute These hervorbringen kann. Das ist der Preis dieser Darstellungen. Lehrer Esser war unwiderruflich beliebt bei den Scheidingern. Und seine Tätigkeit als Lehrer im Nationalsozialismus? Die Nationalsozialisten hatten zumindest ein Grundvertrauen in der Umsetzung seines Sozialisationsauftrages in der Schule, und viele Lehrplanthemen waren von undemokratischem und rassischem Gedankengut. Und die armen Fräuleins Beine und Scholz werden mit leichtem oder auch direktem Unterton in dieser Darstellung in die negative Aura katapultiert. Zumindest bei Fräulein Scholz gehört nachträglich eine positive Ergänzung postuliert, da sie in den letzten Jahren der Existenz der Scheidinger Volksschule mit Fach- und Verwaltungskompetenz die Schule führte.
Die Gemeindemitglieder, der Gemeinderat, die Stadtoberen aus Werl und die Vertreter der Schulbehörden hatten das notwendige Engagement gezeigt bei der Planung und Durchführung des Schulneubaus in Scheidingen. Die detaillierte Schilderung der Handlungsabläufe und –personen würde den Rahmen sprengen oder das Desinteresse beim Leser forcieren. Dieses unbeachtete Wissen – unabhängig vom realen Vorliegen dieser Wissenselemente – nähert sich ungewollt dem vergessenen Wissen. Und das ist verlorenes Wissen, zumal mit dieser Alltagsgeschichte oft im Nachhinein die Funktionsweise und das soziale Klima in (Dorf-)Gemeinschaften erschlossen werden können. Ein unentbehrlicher Fundus geht für Wirtschafts- und Sozialhistoriker sehenden Auges in die Verbannung. Unabhängig davon, das soziale Engagement Einzelner kann so nicht voll in der Würdigung ausgeschöpft werden.
Die Chronologie trägt einen ambivalenten Charakter in sich. Der Historiker kann seinen methodischen Werkzeugkasten weder voll ausschöpfen noch darf er es. Un dilemme technique! Vielmehr gehört eine Chronologie stets auf den Prüfstand, denn stets zeigen sich neue Überreste, die Aufklärendes, Erhellendes oder Ergänzendes beitragen können. Die Scheidinger Schulgeschichte ist nicht komplett, das Komplette wurde auch nicht eingebaut und die Sammlung von neuen Überresten ist ein fortlaufender Prozess. Die vorliegende Chronologie will und kann nur eine Momentaufnahme in Aufarbeitung und Dokumentation sein.
Abbildungsnachweis:
Abbildung 1:
Bild der alten Schule
Abbildung 2:
Schulklasse mit Lehrer Esser. Das Foto befindet sich im Privatbesitz von Samantha Seithe.
Abbildung 3:
Zeitungsartikel. Werler Anzeiger, 23. April 1955. Der Zeitungsartikel befindet sich im Privatbesitz von Samantha Seithe.
Abbildung 4:
Zeitungsartikel. Werler Anzeiger, 14. November 1955. Der Zeitungsartikel befindet sich im Privatbesitz von Samantha Seithe.
Abbildung 5:
Zeitungsartikel. Werler Anzeiger, 16. November 1955. Der Zeitungsartikel befindet sich im Privatbesitz von Samantha Seithe.
Abbildung 6:
Zeitungsartikel. Werler Anzeiger, 05.Oktober 1956. Der Zeitungsartikel befindet sich im Privatbesitz von Samantha Seithe.
Abbildung 7:
Zeitungsartikel. Werler Anzeiger, 01. Oktober 1955. Der Zeitungsartikel befindet sich im Privatbesitz von Samantha Seithe.
Abbildung 8:
Zeitungsartikel. Werler Anzeiger, 31. März 1959. Der Zeitungsartikel befindet sich im Privatbesitz von Samantha Seithe.
Abbildung 9:
Frl. Cäcilia Scholz. Das Foto befindet sich im Privatbesitz von Samantha Seithe.
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